Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
mannichfachen Wegen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge, und Einleitungen sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren und eigentlich in einem andern Sinne nicht zu verstehen. Alles aber, was aus mündlicher Überlieferung hier gesammelt worden, ist sowohl nach seiner Entstehung als Ausbildung (vielleicht darin den gestiefelten Kater allein ausgenommen) rein deutsch und nirgends her erborgt, wie sich, wo man es in einzelnen Fällen bestreiten wollte, leicht auch äußerlich beweisen ließe. Gründe, die man für das Erborgen aus italienischen, französischen oder orientalischen Büchern, die vom Volk, zumal auf dem Land, ungelesen bleiben, vorzubringen pflegt, gleichen denjenigen vollkommen, welche aus Soldaten, Handwerksburschen, oder aus Kanonen, Tabakspfeifen und andern neuen Dingen in den Märchen, auch ihre neue Erdichtung ableiten wollen, da doch gerade diese Sachen, wie Wörter der heutigen Sprache, nach dem Munde der Erzählenden sich umgestalten und man sicher darauf zählen kann, daß sie im sechszehnten Jahrhundert statt der Soldaten und Kanonen, Landsknechte und Büchsen gesetzt haben, und der unsichtbar machende Hut zur Ritterzeit ein Tarnhelm gewesen ist.
Die für diesen zweiten Band anfänglich versprochene Übersetzung des Pentamerone steht den ein heimischen Märchen notwendig nach, so wie die Zusammenstellung derjenigen, welche die Gesta Romanorum enthalten.
Cassel, am 30. September 1814.
Bilderverzeichnis
Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
I n den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön; aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.
Nun trug es sich einmal zu, dass die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, dass man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rief ihr jemand zu: »Was hast du vor, Königstochter, du schreist ja, dass sich ein Stein erbarmen möchte.«
Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, hässlichen Kopf aus dem Wasser streckte. »Ach, du bist es, alter Wasserpatscher«, sagte sie, »ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.«
»Sei still und weine nicht«, antwortete der Frosch, »ich kann wohl Rat schaffen, aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?«
»Was du haben willst, lieber Frosch«, sagte sie; »meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die goldene Krone, die ich trage.«
Der Frosch antwortete: »Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine goldene Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder heraufholen.«
»Ach ja«, sagte sie, »ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel wieder bringst.«
Sie dachte aber: Was der einfältige Frosch schwätzt! Der sitzt im Wasser bei seinesgleichen und quakt und kann keines Menschen Geselle sein.
Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. »Warte, warte«, rief der Frosch, »nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie
Weitere Kostenlose Bücher