Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
und kriecht in den Sack, die Welt geht unter.«
Das Geschrei erschallte durch das ganze Dorf. Der Pfarrer und der Küster, die zunächst an der Kirche wohnten, hatten es zuerst vernommen, und als sie die Lichter erblickten, die auf dem Gottesacker umherwandelten, merkten sie, daß etwas Ungewöhnliches vorging, und traten sie in die Kirche ein. Sie hörten der Predigt eine Weile zu; da stieß der Küster den Pfarrer an und sprach: »Es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzten und zusammen vor dem Einbruch des Jüngsten Tags auf eine leichte Art in den Himmel kämen.« – »Freilich«, erwiderte der Pfarrer, »das sind auch meine Gedanken gewesen! Habt Ihr Lust, so wollen wir uns auf den Weg machen.« – »Ja«, antwortete der Küster; »aber Ihr, Herr Pfarrer, habt den Vortritt, ich folge nach.«
Der Pfarrer schritt also vor und stieg auf die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster.
Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab. Sooft die Köpfe der beiden Toren auf die Stufen aufschlugen, rief er: »Jetzt geht’s schon über die Berge.«
Dann zog er sie auf gleiche Weise durch das Dorf, und wenn sie durch Pfützen kamen, rief er: »Jetzt geht’s schon durch die nassen Wolken«, und als er sie endlich die Schloßtreppe hinaufzog, so rief er: »Jetzt sind wir auf der Himmelstreppe und werden bald im Vorhof sein.«
Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flatterten, sagte er: »Hört ihr, wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen.«
Dann schob er den Riegel vor und ging fort.
Am andern Morgen begab er sich zu dem Grafen und sagte ihm, daß er auch die dritte Aufgabe gelöst und den Pfarrer und Küster aus der Kirche weggeführt hätte. »Wo hast du sie gelassen?«, fragte der Herr. »Sie liegen in einem Sack oben auf dem Taubenschlag und bilden sich ein, sie wären im Himmel.«
Der Graf stieg selbst hinauf und überzeugte sich, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Als er den Pfarrer und Küster aus dem Gefängnis befreit hatte, sprach er: »Du bist ein Erzdieb und hast deine Sache gewonnen. Für diesmal kommst du mit heiler Haut davon; aber mache, daß du aus meinem Land fort kommst; denn wenn du dich wieder darin betreten läßt, so kannst du auf deine Erhöhung am Galgen rechnen.«
Der Erzdieb nahm Abschied von seinen Eltern, ging wieder in die weite Welt, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört.
Der Trommler
E ines Abends ging ein junger Trommler ganz allein auf dem Feld und kam an einen See; da sah er an dem Ufer drei Stückchen weiße Leinewand liegen. »Was für ein feines Leinen«, sprach er und steckte eins davon in die Tasche. Er ging heim, dachte nicht weiter an seinen Fund und legte sich zu Bett. Als er eben einschlafen wollte, war es ihm, als nenne jemand seinen Namen. Er horchte und vernahm eine leise Stimme, die ihm zurief: »Trommeler, Trommeler, wach auf.«
Er konnte, da es finstere Nacht war, niemand sehen, aber es kam ihm vor, als schwebe eine Gestalt vor seinem Bett auf und ab. »Was willst du?«, fragte er. »Gib mir mein Hemdchen zurück«, antwortete die Stimme, »das du mir gestern abend am See weggenommen hast.« – »Du sollst es wieder haben«, sprach der Trommler, »wenn du mir sagst, wer du bist.« – »Ach«, erwiderte die Stimme, »ich bin die Tochter eines mächtigen Königs; aber ich bin in die Gewalt einer Hexe geraten und bin auf den Glasberg gebannt. Jeden Tag muß ich mich mit meinen zwei Schwestern im See baden; aber ohne mein Hemdchen kann ich nicht wieder fortfliegen. Meine Schwestern haben sich fortgemacht, ich aber habe zurückbleiben müssen. Ich bitte dich, gib mir mein Hemdchen wieder.« – »Sei ruhig, armes Kind«, sprach der Trommler, »ich will dir’s gerne zurückgeben.«
Er holte es aus seiner Tasche und reichte es ihr in der Dunkelheit hin. Sie erfaßte es hastig und wollte damit fort. »Weile einen Augenblick«, sagte er, »vielleicht kann ich dir helfen.« – »Helfen kannst du mir nur, wenn du auf den Glasberg steigst und mich aus der Gewalt der Hexe befreist. Aber zu dem Glasberg kommst du nicht, und wenn du auch ganz nahe daran wärst, so kannst du nicht hinauf.« – »Was ich will, das kann ich«, sagte der Trommler, »ich habe Mitleid mit dir, und ich fürchte mich vor nichts. Aber ich weiß den Weg nicht,
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