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Grippe

Grippe

Titel: Grippe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wayne Simmons.original
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schlug der fluchenden Frau, die wie eine irre Banshee mit Tourette-Syndrom an ihm geklebt hatte, die Tür vor der Nase zu. Das verschaffte ihm ein wenig Genugtuung, obwohl es vollkommen abwegig war, dies einzugestehen, sogar sich selbst.
    Er fing sich wieder, indem er sich einen kurzen, kostbaren Moment lang an die Wand lehnte. Er atmete langsamer, sodass er die Pumpe deutlicher hörte, die die Luft aus dem Tank in die Maske presste. Norman stand daneben und klopfte ihm auf die Schulter, um zu fragen, ob er okay sei. War er nicht. Wie auch? An dieser Stelle wurde es nämlich stets haarig; der folgende Part war ihm bei jedem der vorigen zwölf Einsätze am meisten gegen den Strich gegangen. Risikomanagement nannten sie es. Er wusste nicht, ob es als offizielle Bezeichnung galt, doch war das in einer solchen Situation nicht sowieso einerlei? Diese Wörter, diese von Schlipsträgern in vermeintlichen Ideenfabriken ersonnenen Ausdrücke wie ›Protokoll‹, ›durchführbar‹ oder ›verfahrenstechnisch‹ – nichts davon war in der wirklichen Welt bedeutsam. Hier in dieser Wohnung und für diese Menschen besaß es keinerlei Relevanz. Dadurch war niemandem geholfen, der diesem entsetzlichen Vorspiel zu einem grausamen, anonymen und dennoch notwendigen Übel beiwohnen musste.
    Sie durchquerten den Flur der kleinen Wohnung und trafen auf eine in Tränen aufgelöste junge Frau. In einem anderen Zimmer dröhnte laut der Fernseher, sodass George eine hitzige Debatte über die Symptome und Merkmale der Grippe mitverfolgen durfte. Es war mehr oder weniger das einzige Thema, das TV, Rundfunk und Gespräche auf der Straße prägte. Das Gerät klang alt, scheppernd, lärmig. Die Lautsprecher brummten dumpf, als sei irgendwo eine Sicherung durchgebrannt. Ein übernächtigt aussehender Arzt betete die von oben auferlegten Phrasen herunter obwohl er sie selbst kaum für bare Münze zu halten schien. Das Publikum der Talkrunde war beinahe genauso außer sich wie die Leute hier.
    Die Frau stellte sich nicht vor, sondern wich einfach in den Nebenraum aus, als sie die beiden Cops bemerkte. Sie wirkte ihretwegen zwar weder ängstlich noch überrascht, weigerte sich jedoch, ihnen die Hände zu schütteln. George erhoffte sich keine Gefälligkeiten, zumal man seinesgleichen mittlerweile als Todes-
engel betrachtete: Erwartet, wenn nicht gar selbst einberufen, aber niemals willkommen.
    Er sah seinen Kollegen an und schüttelte den Kopf. Der stämmige Bulle zog gleichgültig die Schultern hoch und ging der jungen Frau hinterher. George schloss sich an; war sie infiziert, oder hatte es ihren Lebensgefährten beziehungsweise Ehemann erwischt? Sie wirkte völlig normal, zumindest auf den ersten Blick, doch der Schein mochte trügen. Ein bloßes Niesen genügte offenbar, um sich Klarheit über jemandes Gesundheitszustand zu verschaffen, ein Reizhusten oder andauerndes Schniefen. All dies waren zuvor Anzeichen für eine leichte Erkältung oder gewöhnliche Grippe gewesen, denen man selten größere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Mittlerweile standen sie für die ersten Nägel im Sarg der Betroffenen und ließen gestandenen Männern Schauer über den Rücken laufen, ähnlich der Pestglocken damals, als der Schwarze Tod gewütet hatte.
    George verzagte, als man sie in das andere Zimmer führte, das eines kleinen Mädchens. Rosa Barbie-Tapete zierte die Wände, und auf dem Bett in der Mitte des Raums lag eine verwaschene Tagesdecke mit weiblichen Disney-Charakteren. Schnipsel aus Zeitschriften und Comics waren schludrig mit Klebeband am Kopfende befestigt. Unter der Decke und im Fieber lag ein kleines Mädchen. In der Ecke stand ein Eimer mit ihrem Erbrochenen, und den Nachttopf schien sie auch kürzlich benutzt zu haben. Aus ihrer Nase quoll dickflüssiges Blut, das die junge Mutter wiederholt mit einem bereits stark verschmutzten Tuch abwischte. Das Kind konnte kaum älter als sechs sein.
    Die Frau drehte sich zu ihnen um und flehte sie an, offenbar in einer osteuropäischen Sprache. Jedenfalls verstand George sie nicht, obwohl er sich den Inhalt ihrer Worte denken konnte.
    Er betrachtete das Mädchen näher. Seine Schwester hatte ein Kind im gleichen Alter. Die beiden teilten die gleichen Interessen, denn das Zimmer seiner Nichte war in ähnlichem Dekor eingerichtet worden, jedoch kostspieliger. Woher stammten diese Leute überhaupt? Rumänien? Es handelte sich wohl um Einwanderer aus dem ehemaligen Ostblock, wie sie George fast jeden Tag

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