Grippe
andererseits klar war, dass er sich der richtigen Wortwahl nicht annähern konnte – dem ehrlichsten, menschlichsten Ausdruck.
»Meinst du das ernst?« Norman lachte fast, doch sein Vorgesetzter machte keineswegs einen Scherz. Oh nein.
»Uns bleibt keine andere Wahl«, erwiderte George, indem er sich mit einer Hand an der Wand abstützte. »Für das Kind ist es zumindest das Beste, und ehrlich: Die Mutter hat sich wohl auch längst angesteckt.« Das war gut möglich, denn die Grippe übertrug sich durch die Luft. Die Mitmenschen der Kranken fingen sich das Virus für gewöhnlich mit kurzer Verzögerung ein. George wurde übel, als er nur daran dachte. Ihm wurde noch wärmer in dem Schutzanzug. Am liebsten hätte er sich die Klamotten vom Leib gerissen. Auf einmal fühlte er sich unter seiner Haube eingezwängt und gefangen in diesem Wohnbunker, einem Tummelplatz für Krankheitserreger, Seuche, Angst und Boshaftigkeit. »Entweder machen wir es so, oder das Mädchen muss allein hierbleiben.«
Norman seufzte schwer. Er fing an, den Flur wie ein Tier zu durchschreiten. Ein mächtiges Tier. Mit der Kampfausrüstung und dem Atemapparat sah er noch wuchtiger aus. Norman war nicht für seine Umgänglichkeit bekannt, vielmehr urig, ungeschlacht und mit einer Auffassung vom Polizeidienst ausgestattet, die seiner vierschrötigen Erscheinung entsprach. Gerade deshalb schwang er sich wohl nicht vom Dienstgrad des Constables auf, obwohl er schon lange in diesem Job arbeitete.
»Sollen wir es ihnen erklären?«, fragte er schließlich mit einem Fingerzeig in Richtung des Kinderzimmers. Er brachte es nicht einmal fertig, sich zu den beiden umzudrehen.
»Am besten nicht«, beschloss George. »Wir tun gut daran, wenn wir –«
»Verdammte Kacke!«, brüllte Norman verzweifelt. »Das ist doch voll für den Arsch!«
George kannte das; vieles hielt er ›für den Arsch ‹ , beispielsweise auch die letzte Reform des Polizeiapparats oder die Tatsache, dass Minderheiten im Rahmen der Ausbildung zunehmend bevorzugt wurden. ›Voll für den Arsch ‹ behielt er sich indes für außerordentlich schwerwiegende Übel vor; Dinge wie Geisteskrankheiten, die seine Vorstellungskraft überstiegen, alberne, lächerliche oder auch entsetzliche Vorfälle.
Nicht zu vergessen Ungerechtigkeit.
» Es ist voll für den Arsch«, bestätigte George ein wenig lauter als zuvor, »aber so spielt das Leben, also –«
Die Leute draußen gerieten langsam wieder in Aufruhr, was George nervös machte. Er hatte Mühe, die weinende Frau und ihre kranke Tochter zu übertönen. Dann rief er sich den Sturm der Leute vor Augen, die verfluchte Schreierin mit dem Handy und sein schlechtes Gewissen.
Sie brachen leise auf. Die Frau bemerkte wohl nicht einmal, wie sie hinausschlichen. Die Leute jedoch warteten auf sie und rasteten aus, sobald sie sie sahen. Man hätte George und Norman für Filmstars bei einer Premierenfeier halten können, bloß dass sie wahrlich nicht umjubelt wurden. Ihr Empfang bündelte alles Negative, umschlossen in einer geballten Faust. Wie zu erwarten hatte die Furie ihr Telefon gezückt und nahm die Geschehnisse auf. Als sie George herauskommen sah, richtete sie das Gerät auf ihn. Ihre Augen strahlten geradezu vor perversem Eifer.
George hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht.
Mehrere aus der Menge taten es ihr gleich. Ein Meer von Handykameras, die möglichst alles festzuhalten suchten. Bestimmt mochte mancher altruistische Beweggründe haben, doch eben nicht alle. George schaute jedem Einzelnen in die Augen und urteilte im Stillen.
Jemand spuckte ihn an und traf sein Visier. Kurz sah er nichts, dann wischte er den Speichel mit dem Handschuh ab.
Das ist absolut voll für den Arsch, dachte auch er nun.
Den Sanitätern erging es nicht besser. Zwei hatten sich auf ein heftiges Wortgefecht eingelassen. Zusatztruppen waren eingetroffen und sicherten den Eingang der Wohnung ab, indem sie sich an den Händen fassten und im Halbkreis davor aufstellten.
Draußen warteten mehrere Männer in gelben Anzügen mit Werkzeugkästen, Schweißgeräten und Metallplatten. Auch sie trugen natürlich Sauerstoffgeräte. George nickte ihnen wortlos zu, woraufhin sie an die Arbeit gingen, ebenfalls ohne etwas zu sagen. Er konnte hören, wie sie die Brenner aufheizten und sich zum Versiegeln der Fenster anschickten. Das entrüstete die Meute noch mehr. Den Handwerkern blieb nichts weiter übrig, als sich in das Apartment treiben zu lassen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher