Große Kinder
angeführt wurden. Aber all das ist nicht neu und nichts, was nur in industrialisierten Regionen vorkäme! Liegt es an der »Verstädterung von Kindheit«? Auch Städte sind nichts Neues, und es gab und gibt unzählige Kinder, die in Städten aufgewachsen und dennoch unbeschwert, fröhlich und »normal« geblieben sind. Außerdem beklagen sich Lehrer an Dorfschulen genauso wie ihre Kollegen in der Stadt über zunehmende Verhaltensauffälligkeiten ihrer Schüler. Daran allein kann es also auch nicht liegen. »Neu« ist zweifellos der Verkehr, der die Kinder in Stadt und Land von den Straßen verdrängt hat, und neu und modern sind Fernseher, Computer und technisierte Spielzeuge, mit denen sich die Kinder die Zeit vertreiben. Tatsächlich sind Kinder imSchulalter die absoluten Rekordhalter, was die tägliche Fernseh- und Computerspielzeit betrifft. Aber auch Fernsehen und Computer allein können nicht der Grund dafür sein, dass Kinder so anders sind als früher. Warum schauen sie denn so viel fern, spielen sie so borniert mit ihren Gameboys und haften so an ihren Nintendospielen? Ist womöglich das Fernsehen und Computerspielen noch das Einzige, was reizvoll ist an Kindheit? Was war denn sonst reizvoll an Kindertagen?
In neueren Untersuchungen zum Freizeitverhalten von Kindern im Schulalter stellte sich heraus, dass Kinder sich durchaus anderes wünschen, als immer nur zu Hause vor dem Fernseher oder den Bildschirmen zu hocken. Sie wünschen sich vor allem mehr Platz, mehr Natur und weniger Verkehr, um mit anderen Kindern zu spielen.
Aber auch ohne Autos, Fernsehapparate oder Computer hätten es Kinder nicht leicht, sich spontan und zu mehreren zum Spielen zu treffen. Viele Kinder sind heute nämlich in feste Termine eingebunden: Morgens ist Schule und nachmittags ist entweder Hort, Töpfern, Geigespielen, Reiten, Schwimmen, Fußball, Krankengymnastik oder die Kiefernorthopädin an der Reihe: Nach einem festen Zeitplan werden moderne Kinder von einem Erwachsenen zum anderen gereicht und dabei sozusagen von einem Käfig in den nächsten gesperrt.
Dagegen rebellieren sie. Gott sei Dank!
Auf verschiedene Arten: Die einen versuchen aus dem Käfig »auszubrechen« und schlagen und beißen sozusagen wild um sich. Mit aller Kraft entziehen sie sich dem pädagogischen Zugriff der Erwachsenen und sind »schwer erziehbar«. Auch die zweite Form der Rebellion kennen wir aus der Käfighaltung von Tieren: Aggressionen gegeneinander oder gegen sich selbst – Sucht ist einer von vielen Wegen, sich selbst zu zerstören. Und auch die dritte Form der Rebellion ist bei Kindern nicht andersals bei Käfigtieren: Sie werden stumpf, apathisch, depressiv – oder umgekehrt: motorisch unruhig, nervös, hyperaktiv.
Die Erwachsenen erschrecken und versuchen das Fehlverhalten abzustellen: Die einen fordern wenn möglich geschlossene Erziehungsanstalten und meinen damit, dass die Kinder noch enger an die Leinen genommen werden sollen. Die anderen glauben, die Probleme der Kinder könnten nur durch intensivere Beschäftigung gelöst werden, sie fordern »mehr Programm« in allen Lebensbereichen und tun damit nichts anderes, als immer mehr Ablenkungsgegenstände in den Käfig zu werfen. Die dritten wollen sozusagen die Käfige aufreißen und die Kinder in eine unbegrenzte »Freiheit« entlassen und unterschätzen dabei, wie gefährlich für Körper und Seele eine schutzlose Freiheit ist. Andere wiederum fordern Therapie und meinen damit oft, dass das Kind so repariert werden soll, wie Erwachsene sich »normale Kinder« eben vorstellen: folgsam, konzentriert, fleißig, erfolgsorientiert, aufgeschlossen, freundlich, sozial anerkannt, friedfertig, aber nicht konfliktscheu.
»Kinder an die Macht« ist ein weiterer Lösungsvorschlag von Erwachsenen. Das ist zynisch. Denn wer im Käfig sitzt, kann sich nicht selbst befreien. Nein: Es ist Sache der Erwachsenen, für das Wohl der Kinder zu sorgen, die Bedingungen zu schaffen, in denen sich jedes Kind innerlich und äußerlich frei, aber geschützt zu einer individuellen, stabilen Persönlichkeit entwickeln kann.
Sigmund Freud hat das Alter zwischen 5 und 12 als »Latenzperiode« bezeichnet, das heißt, als eine auffallend unauffällige Lebensphase, in der nichts besonders Wichtiges für die Entwicklung der Persönlichkeit geschieht. Freuds Meinung wirkt leider in der Haltung vieler Entwicklungspsychologen bis heutenach. Es spricht allerdings viel dagegen, dass es im Leben von Kindern, die
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