Große Kinder
drängen, verraten zu werden. Wer es schafft, ein Geheimnis nicht weiterzuerzählen, hat beträchtliche Charakterstärke entwickelt.
Um zu wissen, was richtig und was falsch ist, was wirklich gefährlich ist und was gemein, brauchen Kinder allerdings die Rückmeldung von Erwachsenen. Wenn tatsächlich Dinge passieren, die die Kinder nicht mehr in den Griff bekommen, und wenn sie sich wirklich Schlimmes antun, werden fast immer entsprechende Signale in Richtung Erwachsene gegeben. Das Problem ist aber, dass Erwachsene die Signale oft nicht verstehen, überhören oder bewusst ignorieren. Das ist schlimm für die Kinder, denn sie holen sich »heimlich«, also kaum erkennbar in beiläufigen Nebensätzen oder unschuldigen Andeutungenimmer wieder die Rückversicherung, dass das, was sie tun, noch nicht zu weit geht. Falls doch, müssen Erwachsene da sein, die eindeutig Stellung beziehen und die den Kindern auch klarmachen, dass man Geheimnisse, die Schlechtes verbergen, preisgeben kann, ja offen legen
muss
, ohne dadurch zum »Verräter« zu werden.
Wenn man als Erwachsener entsprechend hellhörig ist, die Kinder von fern im Auge behält und ihnen dennoch ihre »Heimlichkeiten« zugesteht, wird man immer genug von dem mitbekommen, was sie treiben.
Wie wichtig gerade die »heimlichen« Kindheitserlebnisse für die Entwicklung von Eigenständigkeit, Selbstbehauptung, Kreativität, sozialem Verhalten, Selbstvertrauen, Risikobereitschaft, Zuversicht und emotionaler Lebendigkeit sind, wird erst in der Rückschau aus der Erwachsenenperspektive spürbar. Wenn ich Erwachsene, die nicht unter dem Diktat des Fernsehens und unter der lückenlosen Beaufsichtigung von Eltern oder Pädagogen aufgewachsen sind, auf ihre Kindheitserfahrungen anspreche, stoße ich zwar regelmäßig zunächst auf Reaktionen wie: »Ich habe nie etwas Verbotenes oder Heimliches getan, ich war ein ziemlich artiges Kind.« Wenn sie dann aber anfangen, von ihrer Kindheit zu erzählen, sprudeln plötzlich mit unglaublicher Lebendigkeit intensive Bilder und Gefühle hervor, Erinnerungen an alte Geheimnisse, die oft jahrelang »vergessen« waren, die aber offenkundig sehr prägend gewesen sind.
Wie bei dieser etwa vierzigjährigen Mutter, die mich in ihr jahrzehntelang gehütetes Geheimnis einweihte, als ich sie fragte, was sie gemacht habe, als sie etwa 8 Jahre alt gewesen ist:
»Oh ja, da saß ich mit einer Freundin oft stundenlang am Flüsschen, auf einer Brücke, die Füße reichten gerade eben
nicht
bis zum Wasser ...« (die Spannung, ob die Füße nasswürden oder nicht, war auch nach 32 Jahren noch zu spüren!). »Dabei ein Tütchen lila – lila! Brausepulver schlecken: Wer die lilanere Zunge hatte.« (Sie amüsierte sich köstlich bei dieser Erinnerung, aber ein spitzbübisches Lächeln signalisierte, dass die Geschichte weiterging.) »Dann das Tütchen in den Fluss werfen ... und zur nächsten Brücke laufen, das Tütchen rausfischen ...« (juchzend unterdrücktes Kichern) »... und dann weiter am Brausepulver schlotzen! Das war das Größte! – Das ging aber nur mit dieser einen Freundin.«
Das passte zu dieser feinsinnigen, unkonventionellen, engagierten, verlässlich-kooperativen, lustigen Frau.
Auch wenn diese Episode wahrhaftig harmlos ist: In Gegenwart von Erwachsenen wäre solch ein Spiel undenkbar gewesen! In Gegenwart eines Erwachsenen hätten die Mädchen ihre »eigene Verantwortung« für dieses Spiel, von dem sie annahmen, dass es bestimmt nicht »erlaubt« sei, abgestellt. Die wichtige Erfahrung, selbständig etwas sehr Ungewöhnliches, ja »Unmögliches« zu tun und mit den vermeintlichen Risiken fertig zu werden, wäre dahin gewesen. Wenn Erwachsene dabei sind, ist Kinderleben eben langweilig, die bunten, aufregenden, bereichernden Gefühle bleiben aus.
Dass sich Kinder keineswegs daran gewöhnen, ständig von Erwachsenen beobachtet und gesteuert zu werden, dass sie im Grunde nicht glücklich sind mit diesem fremdbestimmten, durchorganisierten Leben, das wir ihnen in unserer modernen Gesellschaft zumuten, belegen einige neuere Untersuchungen: Bei einer groß angelegten Befragung von Kindern im Raum Darmstadt äußerten 1989 vier von fünf Kindern den Wunsch nach häufigeren Versteck-, Fangen- oder Räuber-und-Gendarm-Spielen oder einfach mehr Spielen mit anderen Kindern (Deutsches Jugendinstitut, S. 63). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Befragung von zehnjährigen Kindern in Österreich.Auch dort
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