Große Kinder
unter einigermaßen altersgerechten Bedingungen aufwachsen, innerlich und äußerlich besonders ruhig, unbedeutend und langweilig zugeht. Und ebenso viel spricht dagegen, dass diese Zeit für die Entwicklung der Persönlichkeit weniger entscheidend sein soll als die frühe Kindheit und das Jugendalter.
Wie entscheidend die
frühen
Kinderjahre für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sind, haben Sigmund Freud und seine Nachfolger aus den krankhaften Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen geschlossen. Inzwischen ist dieser Zusammenhang in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden.
Wie sich eine »verpasste Kindheit« zwischen ungefähr 6 Jahren und der Pubertät auf die Persönlichkeit des Erwachsenen auswirkt, darüber gibt es meines Wissens noch keine einschlägigen Untersuchungen. Aber es gibt deutliche Hinweise:
Erwachsene »mit Ausstrahlung«, die in besonderem Maße lebendig, aufgeschlossen, taktvoll, unerschrocken sind, die mit humorvoller Selbstsicherheit auf andere Menschen zugehen, die den Mut haben, gegen den Strich zu denken, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, die nicht von anderen die Lösung von Problemen erwarten, sondern selbst zupacken, die bereit sind, Verantwortung zu tragen und souverän damit umgehen können, wenn ihnen mal etwas danebengeht, für die Gemeinschaftsarbeit und Teamgeist eine Selbstverständlichkeit sind. Diese Frauen und Männer berichten erstaunlich übereinstimmend von Kindheiten, die voller selbstbestimmter, oft riskanter, manchmal schmerzhafter und dennoch immer lustvoller Spiele und Abenteuer gemeinsam mit Freunden waren.
Erwachsene dagegen (besonders viele der jüngeren Generation!), die durch phantasieloses Angepasstsein, fehlende Eigeninitiative, durch unausgeglichene Gefühlsausbrüche aller Art, durch Sucht nach gefühlsintensiven Erlebnissen auffallen, die unter einer eigentümlichen emotionalen Leere, oft gekoppelt mit Angstgefühlen, an Kontaktschwierigkeiten und Selbstwertstörungen leiden, haben kaum Erinnerungen an selbstbestimmte, gefühlsintensive Abenteuer und Erlebnisse gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichaltrigen.
Die Sehnsucht nach verpassten Gefühlen und Kindheitserlebnissen bohrt aber offenbar weiter. Es ist auffallend, dass in den Industrienationen »Extremabenteuer« für Jugendliche und junge Erwachsene ein einträgliches Geschäft geworden ist: »Extrem«expeditionen, »Extrem«skifahren, Geländerallyes, Trekking, Rafting, Freeclimbing oder das »Abenteuer«, sich an einem Gummiseil hängend von einem Kran oder einer Brücke in die Tiefe zu stürzen, zeigen die Sucht nach »Feeling«, die Sehnsucht danach, endlich mal ein echtes Gefühl, den »Kick« zu
er leben
.
Wahrscheinlich saßen die Jungs (und Mädchen!) in dem Alter vor der Glotze, als es möglich gewesen wäre, bei einem tiefen Sprung von einem eroberten Pfosten, vom Baum in den Laubhaufen, beim Treffen in einem heimlichen Lager, beim Versteckspielen im Dunkeln hautnahe, prickelnde Gefühle zu erleben. Und wahrscheinlich hat das, was sie am Bildschirm »erlebten«, zwar die Lust auf Erlebnisse geschürt, aber die schwelende Hoffnung wurde nie eingelöst. Als Erwachsene versuchen sie dann den unbefriedigten Erlebnishunger zu stillen. Trotz aller Mühen und Extreme werden sie aber letztlich wohl nicht mehr auf ihre Kosten kommen. Zumindest muss im Vergleich zu der Zeit, als sie noch Kinder waren, sehr dickaufgetragen werden, um die ersehnten Gefühle auch nur annähernd zu erreichen. Der zunehmende Konsum von Drogen, mit deren Hilfe Gefühle intensiver und länger anhaltend erlebt werden sollen, ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass immer mehr junge Menschen tief im Innern unter einem schalen, farblosen Gefühlsvakuum leiden und alles versuchen, um ihre Gefühle wachzurütteln und bunter zu machen.
Offenbar liegt der richtige Zeitpunkt für die Entstehung einer breiten Palette von wichtigen und tiefen Gefühlen und Lebenserfahrungen in der Zeit zwischen Schulreife und Pubertät. Und wie es scheint, ist ein Zu-Spät leicht ein Nie-Mehr.
Was also brauchen Kinder, um aus sich heraus zu ausgeglichenen, ansprechbaren, fröhlichen, emotional lebendigen, lebensbejahenden und nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gesunden und widerstandsfähigen Menschen heranzuwachsen? Um das zu erfahren, müssen wir versuchen herauszufinden, was für große Kinder, für Kinder zwischen etwa 7 und 13 »normal« ist, welche natürlichen Lebensbedürfnisse sie haben,
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