Großer-Tiger und Christian
ihre Drachen steigen ließen, war ganz leer. Fast war es unheimlich.
»Begleitet uns bis zur Station«, sagten die Soldaten, »wir wollen dabei sein, wenn ihr den Drachen fliegen lasst. In Gesellschaft
geht das besser.«
Auf dem Gleis neben dem Bahnhofsgebäude stand ein langer Zug. Die Lokomotive dampfte. Viele Soldaten waren da, und sie verluden
Pferde, Wagen und einige Kanonen.
»Was macht ihr mit den Kanonen?«, fragte Christian.
Die Kanoniere lachten.
»Wir lassen sie stehen, wenn der Feind kommt. So hat er was zu tun.«
»Kommt er denn?«, fragte Christian.
»Er wird bald da sein«, sagten die Kanoniere, »wir fahren ihm ein Stück entgegen.«
Christian hätte gerne gewusst, wer der Feind sei und ob es schlimm wäre, wenn er nach Peking käme, allein Großer-Tiger legte
just den Drachen auf den Boden und zog den langen Papierschwanz gerade.
»Kwi-Schan, leg einen Stein auf das Ende!«, rief er, und Christian tat es. Dann befestigten sie gemeinsam die seidene Schnur.Christian machte den Zeigefinger nass, streckte ihn in die Luft und sagte:
»Der Wind kommt vom Süden.«
Großer-Tiger nickte, er wusste auch ohne nassen Zeigefinger, dass es ein bisschen aus dem Süden wehte. Er setzte sich neben
den Drachen, Christian nahm die Schnur, und als er hundert Meter gegen die Windrichtung gegangen war, begann er zu laufen.
Da lief auch Großer-Tiger ein kurzes Stück, bevor er den Drachen losließ.
Der Drache war wirklich gut gebaut. Obgleich nur ein ganz kleiner Wind wehte, hob er sich leicht in die Luft, ja er zischte
sogar. Die Soldaten standen im Halbkreis daneben, hielten die Hände vor die Augen, riefen: »Ei ja, Ei ja!« und dann sagten
sie zueinander:
»Er ist ein gutes Tier.«
»Man sieht es ihm an.«
»Er zieht kräftig.«
»Der Wind ist klein, aber sein Bauch ist doch voll davon.«
»Jetzt ruht er sich aus, o weh!«
»Wir wollen dem Wind pfeifen.«
»Ja«, riefen alle, und sie pfiffen dem Wind, und die Kanoniere kamen auch und halfen pfeifen und rufen:
»Lai, lai, lai! Lai, lai, lai! Ni yao lai!« (»Komm, komm, komm! Komm, komm, komm! Du bitte komm!«)
Aber der Wind kam nicht. Dafür kam der Hauptmann, klemmte ein Bambusstöckchen unter den Arm und pfiff mit den Soldaten. Aber
auch das half nicht. Der Drache schwebte in der Luft und wollte nicht mehr höher steigen.
»Wie heißt ihr?«, fragte der Hauptmann.
»Dieser ist Kompass-Berg, und ich bin Großer-Tiger.«
Der Hauptmann schmunzelte, und dabei kam ihm ein guter Einfall.
»Berg und Tiger«, sagte er, »passen gut zueinander. Seid ihr Freunde?«
»Wir sind Freunde«, sagte Christian.
»Wir haben uns lieb«, sagte Großer-Tiger.
»So kommt mit mir zum letzten Wagen. Wir fahren gleich fort,und ihr könnt ein Stück mit uns fahren. Da bekommt der Drache Auftrieb bis zum Himmel.«
»Aber nur ein Stückchen weit«, sagte Christian.
»Wir müssen morgen in die Schule gehen«, sagte Großer-Tiger. Sie sprachen beide gleichzeitig, aber der Hauptmann lachte und
nahm die Drachenschnur selbst in die Hand. Anscheinend verstand er was vom Drachensteigen. Er lief mit tänzelnden Schritten
und mit Armbewegungen, die den Drachen heranholten und wieder freiließen, zu dem offenen Güterwagen am Schluss des Zuges.
Mit einem Satz war er oben.
»Kommt herauf und habt keine Bange! Euer Lehrer verdrischt euch erst morgen.«
Zu den Soldaten rief er: »Beeilt euch! Los, ihr Kerle! Auf, ihr faulen Schlingel! Steigt ein, ihr hundert Mann Schlafmützen!«
Da sprangen die Soldaten herbei und kletterten auf die Wagen; die Kanoniere setzten sich auf die Kanonen, der Hauptmann pfiff
auf einer Trillerpfeife; da gab die Lokomotive Dampf und fuhr langsam aus der Station.
Sogleich straffte sich die Schnur, der Drache zog aus Leibeskräften und stieg in Luftschichten hinauf, wo es viel Wind für
ihn gab. Es war ein herrlicher Anblick, wie er dem Zug in immer größerer Höhe folgte.
Der Hauptmann ließ alle Schnur aus.
»Jetzt müssen wir aussteigen«, sagte Christian.
»Bitte lasst den Zug halten, befehlender Herr«, sagte Großer-Tiger.
»Seht«, rief der Hauptmann, »ich hatte euch schon vergessen. Das Drachensteigen ist eine großartige Sache.«
Er band das letzte Ende der Schnur an ein Kanonenrad, nahm die Trillerpfeife aus der Rocktasche und pfiff, so laut er konnte,
dreimal, viermal, ach, was sage ich, zehn- und zwanzigmal.
Aber der Zug hielt nicht. Er fuhr nur noch schneller, und bei dem Stampfen der Lokomotive und
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