Großmutters Schuhe
die Töchter, Enkel und Enkelinnen, Schwiegersöhne, Schwiegerenkel, eine Kusine mit einer riesigen Serviette um den faltigen Hals, die Zipfel stehen links und rechts ab wie im Comic. Den Prosecco haben sie zu schnell getrunken, ihre Wangen zeigen eine fleckige Röte, als hätte alle gleichzeitig eine heftige Allergie befallen.
Meine Frau Großtante Rieke tupft mit einem Batisttuch an ihren Augen herum, aber nicht vorsichtig genug, die Wimperntusche ist verschmiert, schwarze Schlieren in den Falten, Lachfältchen, dass ich nicht lache, sie sieht nicht aus, als hätte sie je gelacht, mit schiefem Mund vielleicht oder aus Schadenfreude. Wozu hat sie sich überhaupt geschminkt? Damit jeder sieht, dass sie geweint hat? Für Tränen und Schluchzen ist sie zuständig in der Familie, immer schon. Großmama hat ihren viktorianischen Blick
. She is not amused
. Natürlich nicht, ein Begräbnis ist keine Gelegenheit für Amüsement. Sie ist selten
amused
. So leicht es ist, sie zu beleidigen, so schwer ist es, sie zu amüsieren. Ich verstehe sie nicht, sie will wohl auch nicht verstanden werden, und eigentlich habe ich es längst aufgegeben, mich darum zu bemühen. Jede Kränkung, egal wie alt, hält sie an ihrem Busen warm.
An ihrem Busen warm
, ist das nicht eine Liedzeile? Was einem im Kopf stecken bleibt und warum, eigentlich immer nur ein Gefitzel, nicht einmal ein ordentlich geschnittenes Puzzleteilchen, ein Bruchstück ohne Zusammenhang, aber unverrückbar wie ein Felsen. So unverrückbar sind Felsengar nicht. Die herausgerissenen Wurzelstöcke und die Felsblöcke nach dem Murenabgang, ein Weltuntergangsszenario, und mittendrin der Waldarbeiter, der mit seiner Axt die Äste abgehackt hat, eine ganz regelmäßige Bewegung, es sah aus, als würde er so weiter hauen bis in alle Ewigkeit, und ich hab mich dabei erwischt, wie ich die Arme eng an den Körper presste. Kalt ist es geworden, sagte Hannah, gab mir einen Klaps auf die Schulter und rannte vor. Fang mich! Wie sie sich dann an den Baum gelehnt hat. Geräkelt hat sie sich, und dabei ein Gesicht gemacht, ganz unbehaglich wurde mir, schließlich war der Waldarbeiter ganz in der Nähe. Jetzt hab ich’s:
Wie hab ich oft so süß geträumt/an ihrem Busen warm/Wie freundlich schien des Herdes Glut/ lag sie in meinem Arm.
Von wem ist das? Schubert. Muss Schubert sein. Aber wie fängt es an? Wie hab ich oft so süß geträumt … In dieses Atemholen bevor es weitergeht hat der gute Schubert alles hineinkomponiert, wovon ein Mensch träumen kann. Warum denk ich »der gute Schubert«? Er ist nicht mein guter Schubert, er ist niemandes guter Schubert, was für eine Frechheit, wie kommt er dazu, sich von Hinz und Kunz duzen zu lassen, und dann noch als mein Guter apostrophiert, mit dieser widerlichen und ganz und gar unangebrachten Herablassung? Bloß weil er tot ist und sich nicht wehren kann? Keine Achtung, kein Respekt. Menschenrechte für die Toten müsste man fordern. Warum zum Teufel reg ich mich auf? Meine Frau Großmutter hat bereits herübergeblickt. Wo ich bin und was ich tu. Nein, da geht’s um Gott Vater, nicht um Großmütter, und überhaupt ist es paranoid oder egozentrisch oder beides, wenn man ständig glaubt, alle Blicke gelten nur einem selbst. Wo ich bin und was ich tu, sieht mir meine Oma zu?
Lieber Busen warm. Wie hab ich oft so süß geträumt …
»Findest du es nicht unpassend, bei einem Leichenschmaus zu summen?«
Tante Riekes Brillengläser sprühen Blitze, die tödlich wären, wenn man sich nicht längst an sie gewöhnt hätte. »Wo du doch immer der erklärte Liebling deiner Urgroßmutter warst. Schämen solltest du dich.«
Aber ja. Wenn es dich beruhigt, kann ich mich auch schämen. Wahrscheinlich sollten wir uns alle schämen, alle, die wir dasitzen, angeblich ihr zu Ehren. Edith Karmann geborene Voyac, genannt Ditta, gestorben im 93. Jahre ihres Lebens. Das ist auch so eine Phrase. Darf man gar nicht anfangen, darüber nachzudenken. Im 93. Jahre ihres Todes kann keine sterben, würde sie sagen. Sie würde mir zuzwinkern, unter irgendeinem Vorwand mit mir hinausgehen auf die Terrasse und ein bisschen lästern. Sie hat ein so feines Ohr für falsche Töne. Hatte ein so feines Ohr für falsche Töne, und überhaupt ein perfektes Gehör. Bei Onkel Manfreds Begräbnis hat sie mir zugeflüstert: »Jetzt werden sie gleich anfangen zu seufzen und zu fragen, wer wohl der Nächste sein wird.« Wie auf das Stichwort hat Großmama ihren Busen in wogende
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