Gurkensaat
sehen gewesen«, murmelte der Hauptkommissar vor sich hin. Dann erkundigte er sich: »Staatsanwalt Dr. März wurde schon verständigt?«
»Ja. Er steht auf der Autobahn im Stau, kommt aber so schnell er kann«, erklärte Peddersen und verschwand im Haus.
»Der Junge liegt oben«, informierte sie ein junger Beamter der Schutzpolizei mit leiser Stimme und Nachtigall fiel sofort auf, wie blass er war.
»Sehr schlimm?«
»Viel schlimmer.«
Bedrückt folgte Peter Nachtigall dem Kollegen ins Haus. Etwas atemlos erreichte auch Michael Wiener, der jüngste Mitarbeiter in Nachtigalls Team, die beiden und schloss sich ihnen an. »’S Navi ist kaputt. Ich hab mich verfahre«, japste er entschuldigend.
Den Schluss bildete Albrecht Skorubski, der insgeheim hoffte, er könne sich mit den Kollegen des Erkennungsdienstes etwas abseits vom Tatort unterhalten, um keinen intensiven Blick auf das Opfer werfen zu müssen.
»Links.« Peddersen dirigierte das Team am oberen Treppenabsatz zum Tatort. Wenige Schritte später standen sie dort, wo vor Kurzem Annabelle und ihre Großmutter Maurice entdeckt hatten.
Peter Nachtigall schluckte hart und trat näher an den schmächtigen Körper des Jungen heran. Es kostete ihn große Mühe, seine professionelle Haltung zu wahren und nicht davonzustürzen. Neben sich hörte er Wiener leise ächzen und wusste, diesmal würde selbst der sonst recht unerschütterliche Kollege Schwierigkeiten haben, sich auf seine Notizen zu konzentrieren. Das Kind konnte kaum 1,30 Meter groß sein. Zarte, fast weiße, wächsern erscheinende Arme und Beine schauten unter der Kleidung hervor. Nachtigalls Herz schlug bis zum Hals, als er in die Hocke ging, um besser sehen zu können. Ein Unfall oder tatsächlich Mord? Sollte er wirklich glauben, dass jemand absichtlich einen Sechsjährigen erschossen hatte? Er konnte sich mit diesem Gedanken nur schwer vertraut machen.
»Wie heißt er?«
»Maurice.«
»Wo ist der Arzt? Ist der bereits wieder weg?«
»Nein, nein. Der kümmert sich um den Rest der Familie.«
Nachtigall nickte.
Maurice Gieselke lag ausgestreckt auf dem Rücken. Die Wucht des Geschosses hatte die linke Gesichtshälfte vollständig zerstört, und auch von der anderen war kaum etwas geblieben, was als Gesicht zu identifizieren gewesen wäre. Der Körper dagegen schien weitgehend unversehrt.
»Nur ein Schuss?«
»Nein. Es müssen mehrere gewesen sein. Abgegeben aus dem Jagdgewehr dort drüben auf dem Schreibtisch.«
Nachtigall entdeckte den Lauf einer Waffe, der wie ein kalter, schwarzer Finger in den Raum hineinragte.
»Woher wisst ihr, dass dies auch die Tatwaffe ist?«
»Der Lauf«, antwortete Peddersen, als sei das Erklärung genug. Nachtigall verzichtete darauf, den verstörten Beamten näher zu befragen und erschloss sich, dass der Lauf noch warm gewesen sein musste, als die Kollegen zum Tatort kamen.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Seine große Schwester.«
»Mein Gott. Wie groß?«, hakte der Hauptkommissar nach.
»Zehn Jahre alt. Der Notarzt ist mit ihr im Wohnzimmer. Natürlich steht sie unter Schock.«
Wie furchtbar musste es für das Mädchen gewesen sein, eine solche Entdeckung zu machen, dachte Nachtigall und bekämpfte eine hartnäckig aufsteigende Übelkeit, die ihn an Tatorten wie diesem regelmäßig überfiel. Ob sich die Kleine überhaupt von so einem Schock erholen konnte?
»Michael? Der Fotograf soll jetzt die Bilder machen, die uns noch fehlen. Also auch eine Aufnahme vom Blick durchs Fenster in den Garten, du weißt schon. Dann sehen wir, ob wir mit der Familie reden können. Wo ist eigentlich Albrecht?«
»Der spricht mit einem Kollegen.«
»Draußen?«
»Im Treppenhaus – er ist gar nicht mit uns hier reingekommen.«
Nachtigall sah sich gründlich im Raum um. Die Einrichtung sorgte für eine düstere, beklemmende Atmosphäre. Dunkelbraune, deckenhohe Schränke zogen sich an der Wand entlang. Der massige Schreibtisch, ebenfalls aus dunklem Eichenholz gefertigt, stand schräg, der breiten Fensterfront zugewandt. Papiere stapelten sich zu beiden Seiten auf ihm, einige Blätter waren zu Boden gerutscht. An der einzigen freien Wand hingen Hirsch- und Rehschädeldecken mit Geweihen, ein Wildschweinkopf sowie zwei Marderhundköpfe. Im Regal entdeckte er ein komplett präpariertes Hermelin. Angewidert schaute Nachtigall zur Seite.
»Wessen Zimmer ist das hier – und wer ist der Jäger? Ich denke, die Familie betreibt eine Gurkenfabrik?«, fragte der Hauptkommissar
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