Gute liegt so nah...
PROLOG
I ch bin eine Stalkerin. Eine von der harmlosen Sorte. Na ja, ich war eine Stalkerin, es ist schon eine Weile her. Trotzdem ist es schwer, zuzugeben, dass man aus Liebe verfolgt, belauscht, spioniert, herumgelungert und bestochen hat. Aber all das habe ich getan, und zwar ziemlich gut, wie ich hinzufügen möchte. Vielleicht wissen Sie, wovon ich rede. Es spielt keine Rolle, wie alt man ist, welche Schulbildung man hat oder wo man wohnt – Stalking ist der weiblichen Psyche angeboren. Wir haben das alle schon mal gemacht.
In meinem Fall habe ich Joe Carpenter nachgestellt, seit ich vierzehneinhalb war, bis ich aufs College ging. Ich wusste, wo mein Opfer lebte, ich kannte den Namen seiner Mutter, den seiner Schwester und den seines Hundes. Ich wusste, welchen Pick-up er fuhr, kannte seine Lieblingsfarbe, die Namen seiner vier Exfreundinnen und sein Lieblingsbier. Ich wusste, in welche Kneipe er freitagabends ging und welche Songs er in der Jukebox spielte. Ich wusste, wo er arbeitete, wie er seinen Kaffee trank und welche Zensur er in Spanisch hatte. Es gab nicht viel, was ich über Joe Carpenter nicht wusste.
Obwohl ich nicht der juristischen Definition einer Stalkerin entsprach, bin ich doch ein- oder zweimal an Joes Haus vorbeigefahren. Vielleicht auch öfter. (Okay, öfter.) Unsere „zufälligen“ Begegnungen waren mit militärischer Präzision geplant, und es brauchte jahrelange Übung, dieses Niveau von Zufälligkeit zu erreichen. Wahrscheinlich sollte ich nicht stolz darauf sein. Trotzdem, Talent ist Talent.
Es begann im ersten Semester Biologie an der Nauset-Highschool in Eastham, Massachusetts. Joes Platz befand sich diagonal vor meinem, und um zur Tafel zu schauen, musste ich an ihm vorbeisehen. Was ich nicht konnte. Nur wenige Frauen schafften es, Joe nicht anzusehen, selbst als er erst vier zehn war. Dann stellte ich fest, dass sein Schließfach nur drei Fächer von meinem entfernt war, und das Stalking fing an.
Mal erwähnte er einem Freund gegenüber, dass er nach der Schule an den Strand gehen würde, wo ich mich dann verbotenerweise in das Seeschwalbennistgebiet schlich, um Joe heimlich beim Herumalbern mit seinen Kumpels zu beobachten. Oder ich sah den Wagen seiner Mutter vor dem Supermarkt, wenn mein Vater mich von irgendwo abholte, und dann rief ich, dass ich dringend noch Tampons bräuchte, weil ich mir sicher sein konnte, dass der Einkauf weiblicher Hygieneprodukte meinen Dad veranlassen würde, auf dem Parkplatz zu warten. Ich schlich durch die Supermarktgänge, in der Hoffnung, einen Blick auf Joe Carpenter zu erhaschen. Oder ich fuhr mit dem Fahrrad in der Stadt herum, auf der Suche nach ihm, und sobald ich ihn gefunden hatte, hielt ich an, um den Luftdruck meiner tadellos aufgepumpten Reifen zu überprüfen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern mich einfach nur in seiner Gegenwart aufzuhalten.
Joes Nachname erwies sich geradezu als Prophezeiung, denn er wurde Zimmermann und deswegen ironischerweise bekannt als Joe Carpenter the Carpenter. Dank meiner jahrelangen Recherche wusste ich, was anderen vermutlich aufgrund seiner Schönheit entging, nämlich dass er ein aufrichtiger, bescheidener, hart arbeitender und wundervoller Mann war. Er war hilfsbereit, ohne das an die große Glocke zu hängen, stolz auf seine Arbeit und begegnete anderen Menschen offen und fröhlich. Ja, und er sah fantastisch aus.
Bei seinem Anblick blieb einem die Luft weg. Ein Lächeln von Joe konnte eine Kellnerin dazu bringen, ihre Kaffeekanne fallen zu lassen, sodass überall im Restaurant Glassplitter herumflogen, während sie mein Stalking-Opfer verträumt ansah. Autos stießen zusammen, wenn er über eine Kreuzung joggte, Gespräche verstummten, sobald er einen Raum betrat.
Und wenn er bei der Arbeit draußen sein Hemd auszog, hielten Touristen an, um diese Schönheit zu fotografieren. Vergesst Nauset Light, den Leuchtturm, macht ein Foto von dem da!
Keine Frau blieb unbeeindruckt von Joes Aussehen. Dunkelblondes Haar mit goldenen Sonnensträhnchen. Ausdrucksvolle, markante Gesichtszüge. Klare grüne Augen mit dichten, unglaublich langen goldenen Wimpern. Grübchen. Ein schiefes, jungenhaftes Lächeln. Perfekte Zähne. Natürlich wusste Joe, wie toll er aussah – kein Mensch kann so aussehen, ohne sich seiner Wirkung auf andere bewusst zu sein. Aber er setzte sich nie in Szene. Im Gegenteil, es schien ihm egal zu sein, was sein leicht schlampiges
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