Gute Nacht, Peggy Sue
Sohnes, und sie begann zu weinen.
Mr. Biagi sagte kein Wort.
M. J. verließ die Intensivstation.
In ihrer Hast, die Szenerie hinter sich zu lassen, bog sie im Korridor falsch ab. Statt im Flur zu den Aufzügen fand sie sich in einem Teil des Krankenhauses wieder, den sie nie zuvor gesehen hatte. Weiße Wände und glänzender Linoleumbelag verrieten ihr, daß es sich um einen Anbau neueren Datums handeln mußte. Eingerahmt und hinter Glas hingen unterschiedliche Erinnerungsfotos von der Einweihung des Flügels, Fotos von den Repräsentanten des Krankenhauses beim Durchschneiden des Bandes. Schnappschüsse der Honoratioren in Smoking und Abendkleid. Eine Bronzetafel mit der Inschrift »
Der Georgina-Quantrell
Flügel«
.
Und ein Zeitungsartikel mit der Schlagzeile: »Cygnus-Direktor stiftet eine neue Abteilung für Drogentherapie für mehrere Millionen Dollar.« Die Fotos zeigten einen ernsten Adam Quantrell, der neben der Gedenktafel posierte.
M. J. stand lange vor der Schautafel, studierte die Fotos und Zeitungsartikel. Drogentherapie? Ein überraschender Feldzug für einen Mann, der ein Vermögen mit Medikamenten verdient hatte. Ihr Blick schweifte über die gesamte Breite des Schaukastens und blieb an einer Liste von Medikamenten hängen, die die Hitliste des Mißbrauchs anführten. An der Tafel ganz oben war eine Ansammlung von bunten Kapseln angebracht. Und darunter stand: »Mit freundlicher Empfehlung der Cygnus Company.«
In diesem Moment ging M. J. ein Licht auf. Tote Junkies. Eine neue Droge im Umlauf. Cygnus’ pharmazeutische Produkte.
Und ein Streichholzheftchen mit Adam Quantrells Telefonnummer.
M. J. lief zu einem der öffentlichen Telefonapparate im Korridor und rief Beamis im Morddezernat an.
Beamis stand kurz vor Dienstschluß und zeigte keinerlei Begeisterung dafür, seinen Arbeitstag unnötig zu verlängern.
»Lassen Sie es mich mal so ausdrücken, Novak«, erwiderte er. »Global betrachtet haben Drogentote bei mir nicht unbedingt die höchste Priorität.«
»Denken Sie darüber nach, Lou. Wie kommt eine Drogensüchtige zu Adam Quantrells privater Telefonnummer? Warum war Quantrell so erpicht darauf, die Tote zu sehen? Er verschweigt uns was.«
»Nein, tut er nicht.«
»Das sehe ich anders.«
»Das waren Junkies, Novak. Sie haben ihr Leben täglich aufs Spiel gesetzt. Jetzt ist etwas schiefgegangen. Das ist kein Mord. Das ist kein Selbstmord. Das ist Dummheit. Eine Art natürlicher Auslese. Nur der Kluge überlebt.«
»Vielleicht denken Sie so. Vielleicht denkt Quantrell so. Aber ich habe noch immer zwei tote Frauen im Leichenschauhaus.«
»Quantrell hat damit nichts zu tun. Der Mann engagiert sich in der Drogentherapie, nicht im Drogenhandel.«
»Lou, wir haben es mit einem völlig neuen Stoff zu tun. Ich habe mit einem Arzt aus der Notaufnahme einer Klinik gesprochen. Das Zeug war ihm völlig unbekannt. Und um eine nagelneue Droge zu kochen, muß man Biochemiker sein. Und ein Labor haben. Und eine Fabrik. Cygnus hat alles.«
»Cygnus ist ein angesehenes Unternehmen auf gesetzlich einwandfreier Grundlage.«
»Vielleicht haben sie eine Tochterfirma mit weniger einwandfreier gesetzlicher Grundlage?«
»Herrgott, Novak! Ich trete Quantrell nicht auf die Zehen.«
»Es heißt, Sie hätten ihm einen Gefallen getan. So ganz nebenbei.«
Am anderen Ende blieb es einen Moment still. »Yeah. Na und?«
»Darf man fragen, um welche Art von Gefallen es sich gehandelt hat … in South Lexington?«
»Sie wollen Einzelheiten wissen, Novak? Dann reden Sie mit
ihm!
« fuhr Beamis sie an. Dann legte er auf.
M. J. starrte auf den stummen Hörer in ihrer Hand. Vielleicht hatte sie Lou in diesem Punkt zu hart bedrängt.
Mein loses Mundwerk,
dachte sie.
Eines Tages falle ich deshalb noch gründlich auf die Schnauze.
Sie legte auf. Als sie sich vom Telefon abwandte, sah sie Mr. und Mrs. Biagi aus der Intensivstation kommen. Sie stützten sich gegenseitig, hielten sich mühsam aufrecht, als hätten Kummer und Trauer sie ausgezehrt.
M. J. dachte an Nicos Biagi, mit den zahllosen Infusionsschläuchen am Körper. Sie dachte an die weibliche Unbekannte und Xenia Vargas im Kühlraum des Leichenschauhauses, die Beamis im Rahmen seiner Weltanschauung eines sozialen Darwinismus allesamt auf der Stufe jugendlichen Unrats angesiedelt hatte. Es gab etwas, das diese Menschen umbrachte, etwas, das seine bösen Wurzeln in die Projects gesenkt hatte.
In ihr altes Zuhause.
Auf der Fahrt zurück zum Freeway
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