Gute Nacht, Peggy Sue
lenkte sie den Subaru die South Lexington hinauf. Nichts hatte sich in den letzten Jahren verändert. Die sieben Project-Gebäude überragten das Viertel noch immer wie Gefängnistürme, der Basketballkorb auf dem Spielplatz war defekt, und die Jugendlichen lungerten noch immer an der Ecke Franklin und South Lexington herum. Nur die Gesichter hatten sich verändert. Und das nicht nur, weil es sich um andere Menschen handelte. In ihrem Blick lag eine neue Härte, eine Vorsicht, mit der sie ihre Vorbeifahrt beobachteten. Erst in diesem Moment traf der Gedanke sie mit aller Macht.
Für diese Jugendlichen war sie eine Außenseiterin; jemand, den man beobachten, vor dem man sich in acht nehmen mußte; jemand, dem man nicht trauen konnte.
Sie wissen nicht, daß ich eine von ihnen bin … oder vielmehr war.
Sie fuhr weiter die South Lexington entlang und bog auf die Zufahrt zum Freeway ein.
Der Verkehr Richtung Norden war noch immer dicht. Es war der allabendliche Exodus in die Vorstädte, der tägliche Aderlaß der City, mit dem sich die Büroangestellten nach Bellemeade, Parris, Clarendon und Surrey Heights ergossen. Jene, die es sich leisten konnten zu fliehen, flohen. Selbst M. J., ein Kind der City, dort geboren und aufgewachsen, nannte jetzt die Vorstädte ihr Zuhause. Erst im vergangenen Jahr hatte sie sich ein Haus in Bellemeade gekauft. Es schien ihr ein logischer Schritt gewesen zu sein, vom finanziellen Standpunkt aus, und sie hatte einen Punkt im Leben erreicht, an dem sie eine Verpflichtung, irgendeine Verpflichtung eingehen mußte, auch wenn diese nur eine Parzelle mit Haus und drei Schlafzimmern umfaßte. Bellemeade war eine gute Gegend, nahe genug an der Stadt, um sich noch als Städter zu fühlen, und doch weit genug entfernt, um in den Genuß der Sicherheit der Vorstadt zu kommen.
Einem Impuls folgend fuhr sie an der Abfahrt nach Bellemeade vorbei und blieb auf dem Freeway. Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie Surrey Heights erreicht hatte.
Auf der Strecke war der Verkehr immer schwächer geworden, und die Landschaft hatte sich verändert. Kleine schmucke Häuschen hatten Bäumen und Hügeln Platz gemacht, frisch ergrünt im sprichwörtlichen Aprilregen. Weiße Koppelzäune und Pferde tauchten auf … sichere Vorboten alten Geldes. Sie nahm die Ausfahrt Surrey Heights, um auf den Fair Wind Drive zu gelangen.
Fair Wind klingt nach Segelsport,
dachte sie. Trotzdem war es ein hübscher Name für eine Straße und durchaus passend, da Schiffe, beziehungsweise Yachten, den Besitzern der großen alten Villen, an denen sie vorbeifuhr, sicher nicht fremd waren.
Nach zwei Meilen kam sie zur Residenz der Quantrells. Das Haus war nicht zu übersehen. Zwei Säulen aus Stein flankierten die Einfahrt. Der Name Quantrell stand in großen schmiedeeisernen Lettern auf einer der Säulen. Das Tor war für Besucher geöffnet. M. J. fuhr hindurch und folgte der leicht gewundenen Auffahrt zum Haus.
Vor der Villa parkten drei Autos, ein Jaguar und zwei Mercedes. Sie stellte ihren leicht betagten Subaru neben dem Jaguar ab und stieg aus.
Hübscher Lack,
dachte sie und betrachtete den burgunderroten Jaguar. Das Innere war so tadellos sauber und leer, daß nichts auf die Identität des Halters hinwies. Keine Aufkleber am Heckfenster kündeten von seiner Geisteshaltung, obwohl einer mit der Aufschrift
Selber fressen macht fett
durchaus angebracht gewesen wäre.
Sie ging zum Vordereingang und klingelte. Die Klingel drinnen schlug an wie eine Kirchenglocke in einer Gruft.
Die Tür öffnete sich, und ein Mann in Butleruniform sah auf sie herab. »Ja bitte?« fragte er.
M. J. räusperte sich. »Mein Name ist Dr. Novak. Vom Gerichtsmedizinischen Institut. Könnte ich bitte mit Adam Quantrell sprechen?«
»Erwartet Sie Mr. Quantrell?«
»Nein. Aber ich komme in einer amtlichen Angelegenheit.«
Einen Moment schien der Mann zu zögern. Dann machte er die Tür weiter auf. »Kommen Sie herein.«
Überrascht darüber, welch leichtes Spiel sie hatte, trat sie ein. Ihr Blick konzentrierte sich fasziniert auf den Kristallüster an der Decke, der die Halle beherrschte.
Willkommen in meiner bescheidenen Herberge,
schien hier alles zu sagen. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Schloß zu befinden. Den Fußboden bedeckten glänzende Terrazzofliesen, und ein Treppengeländer aus massivem Holz führte bis zu einer Galerie im ersten Stock. Gemälde, meist modern und irgendwie beunruhigend grell in der Farbgebung, grüßten von
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