Hacken
tanzen den Delfin, Beleuchtungsmeister machen den Gitarrenhelden, die altbekannten Bilder. Irgendjemand tanzt barfuß, torkelt ans DJ-Pult und fragt, ob der DJ »Sex Machine« auflegen könne, bitte jetzt James Brown, »Sex Machine«. Der DJ verneint. Sie schaut. Dann durchläuft die Barfußfrau Stadien der kompletten Verwirrung, der Entrüstung, gefolgt von Entsetzen. Heftig schüttelt sie den Kopf, läuft über die Tanzfläche, um sich zu ihrem Grüppchen zu gesellen. Sie erzählt jetzt ihren Leuten. Reißt dabei die Arme über den Kopf, hält inne, staunt. Sie ist überhaupt ein staunender Mensch! Ihre ganzen Augen praktizieren Staunen allezeit, jetzt aber ist sie immer noch am Erzählen und schüttelt wieder den Kopf. Sie musste soeben erleben, dass es eine Welt jenseits ihre Erfahrungshorizonts gibt. Und sie regt sich furchtbar auf darüber, dass eine andere Welt möglich ist.
Dass eine Welt möglich ist, die auf Partys ohne »Sex Machine« auskommt. Der arme DJ versucht, die arme Frau mit einem anderen Hit zu versöhnen, einem HipHop-Stück voller Liebe und Soul vielleicht, etwas wie »Three Is The Magic Number« von De La Soul. Falsch. Die Tanzfläche leert sich, ein letztes Mal blickt dieBarfüßige zum DJ herüber. Triumph werfen diese Augen hinüber ans Pult, der Sieg der Zornigen. Der arme DJ! Nicht zum ersten Mal hat er erfahren, dass es mitten in Berlin eine Welt jenseits seines Erfahrungshorizonts gibt. Eine Welt, die »Sex Machine« erwartet, wenn sie feiert.
IM TRÜBEN FISCHEN
Der Wunsch nach den abgespielten Hits aus Funk und Fernsehen vermag bei näherem Hinsehen nicht weiter zu überraschen. Die Stadt erhält schließlich einen kontinuierlichen Zustrom aus den Provinzen. Sie ist per se der Ort, an dem Diddel-Designs gekauft und zur Firmenfeier gekegelt wird wie nirgendwo sonst. Die Barfüßige als Vertreterin eines avancierten Theaters in Sachen Dramaturgie und Regie ist zugleich Musikmauerblümchen. Niemand kann alles wissen, irgendeine Gegend der Uninformiertheit gibt es in jedem Menschen. Wenn ich mich schon interessiere für 101 Spezialsorten von Popmusik, dazu auch für Klassik, Bildende Kunst, Tanz, Theater, Literatur, Mode und Theorie, dann auch in mir.
Das Ländliche und das Urbane, durch Internet, Mobilfunk und Satellitenkommunikation haben sie sich einander angenähert, mehr noch, sie weichen auf, schieben sich ineinander. Ich mussnicht dort sein, in der Stadt. Dieser Gedanke geht mir durch den Kopf in diesen Monaten. Ich muss da aufhören. Ich bin in diesem Berliner Milieu deplaziert. Und dann kommt im Frühjahr 2008 ein Anruf: Ob ich Online-Nachrichten schreiben wolle für die Online-Niederlassung von
Spex.
Und ob ich will! Im Netz bin ich zuhause – und in Evessen.
DIGITAL IST’S BESSER
Es dauert noch ein Jahr, dann erst enden meine allwöchentlichen Berlinbesuche. Im Sommer 2009 verlassen wegen eines Intendantenwechsels beinahe alle in meiner näheren Umgebung das Haus, also bleibe ich noch ein drittes Jahr. Damit das rund ist und damit ich mir mir selbst gegenüber nicht kleinlich vorkomme, noch einmal alles probieren! In diesem Jahr wird Evessen immer mehr zu einem Ort, an dem mein Leben Gestalt annimmt. Einige Menschen hier, besonders Dirk, ein Agrarwissenschaftler, der von Hamburg aus hierher gezogen ist, sind inzwischen zu guten Freunden geworden. Unsere Tochter geht hier in den Kindergarten, auch das ermöglicht eine engere Verbindung zum Dorf. Die Kommunalpolitik beginnt mich zu beschäftigen. Evessen liegt in einer Gegend, in der die Bevölkerungszahlen rückläufig sind. Schöppenstedt etwa mit seinen 5000 Einwohnern verliert 200 Einwohner in jedem Jahr. Und die Zahl der Kinder, die mitMascha eingeschult werden, liegt um fast ein Drittel niedriger als die der Schulanfänger ein Jahr zuvor. Das lässt Institutionen wie den Kindergarten nach Möglichkeiten suchen, auf Dauer zu überleben. Zahlen und Relationen, die ein Leben hinter der Idylle erahnen lassen. Gleichzeitig hat das Kind mich dazu gebracht, über Gewohnheiten von mir nachzudenken. Vor allem Fehmi achtet mehr und mehr darauf, wo unsere Lebensmittel herkommen. Der Takt unserer Einkäufe auf dem Lindenhof in Eilum erhöht sich.
Dort sehe ich eines Tages, wie eine junge Frau einen Zettel aufhängt. Von Hofkino ist darauf die Rede, ich frage nach. Sie erzählt, dass Jarmuschs
Night On Earth
in kleiner Runde gezeigt werden soll, »dort drüben«, auf ihr Haus verweisend. Ich liebe diesen Film und
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