Hacken
Bedeutung als Web 2.0-Katalysator steht indes außer Frage. Dass aber die Felder rings um das Dorf zu einem großen Teil ebenso mittels Computertechnologien gestaltet werden und dabei sogar auf Satellitenkommunikation zurückgreifen, dieser Umstand ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Dass auch in diesem Kaff längst C. A. F. Usus ist – Computer Aided Farming –, das erfahre ich erst zwei Jahre nach meiner Ankunft in Evessen. Noch bin ich nicht soweit. Ich habe noch nicht viel zu tun mit der digitalen Wolke auf dem Land. Ich hatte Probleme mit dem Internet. Ich habe ein Baby. Ich genieße die Landschaft, das Bild und nichts als das reine Bild.
THEATERVILLE
Da vernehme ich die Stimme eines Vogels. Sie klingt vertraut, doch zunächst traue ich meinen Ohren nicht. »Berlin! Berlin!« trällert sie. Denn das Vogelmännchen sang im Popchor und arbeitete in der Dramaturgie des Deutschen Theaters. Sein Haus hat eine neue Spielstätte eröffnet und sucht jemanden, der dort ein Musikprogramm auf die Beine stellt: Konzerte, DJ-Abende, Premierenpartys. Der Ruf nach Berlin folgt einer Logik: Zwei Jahre zuvor hatte ich mich darum beworben, dem Musik-Dramaturgen einer anderen großen Bühne Berlins zu assistieren. Meine Bewerbungwar in der letzten Runde gescheitert, und mein Chorkollege wusste davon.
So reise ich ein Jahr nach unserer Evessener Ankunft nach Mitte. Schnell wird klar, ich kann das machen. Ein Großteil der Arbeit macht das Organisieren der Termine aus. Telefon und Internet genügen da als Vehikel. Meine Anwesenheit in Berlin ist vor allem an den Wochenenden gefragt, an denen die Musik tatsächlich spielt.
Auf dem Land habe ich mich des Ausgehzwangs längst entledigt und bin von einem Nacht- auf einen Tagesrhythmus umgestiegen. Was in erster Linie an unserer Tochter liegt. Doch hinter den Kulissen dem Berliner Partyvolk zu huldigen, das klingt nach einer reizvollen Aufgabe. Telearbeit! E-Mail-Verteiler erstellen, Konzerttermine mit der Technikabteilung synchronisieren, Gagen aushandeln und Abläufe erstellen wie die Regie ihre Durchläufe in den Theaterproben. Doch bald stellt sich heraus, an diesem Haus bevorzugt man eine andere Musikkultur. Publikum gediegen, Ensemble gewöhnt an das Greatest-Hits-Feiern der vergangenen Jahre. Die neue Spielstätte genießt jedoch die Freiheit jener jugendlichen Aura, mit der sich das Theater zu umgeben sucht. Wir machen erst einmal. Und kommen auch nur zehn Zahlende zu einem Konzert. Ich habe selbst Theater gespielt, von Kind auf, im Altenverein Theater für die Alten, in der Jugendgruppe für Kinder. In Berlin hatte ich das Theater weiterverfolgt, der Geruch nach den Holzplanken, das runde, sich dem Publikum entgegenstreckende,diese Akustik, die auf die Sprache fokussiert. Hatte die Inszenierungen Dimiter Gottschews lieben gelernt und mit dem Autorenregisseur René Pollesch ein langes Interview für
Spex
geführt.
Wenn ich am DT bin, genieße ich den Betrieb durchaus. Doch blicke ich total von außen auf das alles, auch auf die Stadt. Schon dieses eine Jahr in Evessen hat also genügt, aus der trüben Suppe herauszuspringen. Auch wenn ich im ersten Jahr da draußen noch mit den selben Redaktionen zusammengearbeitet habe wie zuvor und außerdem das Dorf nicht in der Komplexität erlebe, die es mir offenbaren wird. Die Sorgen der Bauern um das richtige Wetter, die sehr konkreten Aufgaben der Kommunalpolitik auf unterster Ebene, den Streit der Nachbarn. Die Idee, durch den Wegzug einen neuen Blick auf die Stadt und auf mich selbst zu ermöglichen, geht auf, das merke ich bei der Arbeit im Theater. Von außen herein richtet sich mein Blick. Was ich sehe, belustigt mich, oder, nein: Es macht mich gelassen. Wie es inzwischen das Online-Spiel
Farmville
gibt, in dem sich die User ihre eigenen Bauernhöfe errichten, so spiele ich hier Theaterville. Eine hochspezialisierte Teilkultur einer ausdifferenzierten Metropole breitet sich vor mir aus: das Theater. Seine Welt ist viel zu kompliziert, um Weiteres berücksichtigen zu können. Wie ein Spiel, das logisch zu einem Bestandteil, zu einem Arm in der Wirklichkeit meiner täglichen Operationen im Web wird, dieses Theaterville.
DER MOMENT: DIESE PARTY
Winter, in den ersten Monaten des Jahres 2008. Draußen schneit es, die Laternen leuchten orange auf die Kristalle. Ich kann die Charité sehen. Sie ist eingerüstet, und durch die Sicherheitsmatten pfeift der Wind. In der Bar des Theaters tobt es. Regisseurinnen
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