Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
PROLOG
Ich war sechs, als ich das erste Mal verschwand.
Mein Vater hatte einen Zaubertrick für die alljährliche Weihnachtsfeier im Seniorenzentrum einstudiert, und seine Assistentin, die Sekretärin, die einen echten Goldzahn und falsche Wimpern so dick wie Spinnenbeine hatte, war krank geworden. Ich wollte meinen Vater gerade anflehen, mich einspringen zu lassen, da bat er mich, als würde ich ihm einen Gefallen tun.
Ich war also sechs, und ich glaubte damals noch, mein Vater könnte mir tatsächlich Münzen aus den Ohren ziehen und aus den Falten von Mrs. Klebans Morgenrock einen Blumenstrauß holen und Mr. van Looens dritte Zähne verschwinden lassen. Er zeigte solche kleinen Tricks ständig für die alten Leutchen, die ins Zentrum kamen, um Bingo zu spielen oder Sitz-aerobic zu machen oder sich alte Schwarzweißfilme anzusehen, bei denen der Ton knisterte wie Feuer. Ich wußte, daß einiges an den Zaubernummern unecht war - der aufgeklebte Schnurrbart zum Beispiel und die Münze mit zwei Kopfseiten -, aber ich glaubte ganz fest daran, daß der Zauberstab meines Vaters die Macht hatte, mich in eine Art Zwischenzone zu befördern, bis er es für angebracht hielt, mich zurückzuholen.
Am Abend der Weihnachtsfeier scheuten die Bewohner von drei betreuten Seniorenwohnanlagen weder Kälte noch Schnee und ließen sich mit Bussen zum Zentrum fahren. Sie saßen im Halbkreis vor meinem Vater und schauten ihm zu, wie er einige Nummern vorführte, während ich hinter der Bühne wartete. Als er mich ankündigte - die wunderbare Cordelia! -, kam ich in einem Paillettenkostüm aus meiner Verkleidungskiste auf die Bühne.
Ich habe an jenem Abend viel gelernt. Zum Beispiel, daß die Assistentin eines Zauberers die Illusion durchschauen muß. Daß es ausreicht, den Körper in einer bestimmten Weise zu verrenken und einen schwarzen Vorhang über dich fallen zu lassen, wenn du unsichtbar werden willst. Daß Menschen sich nicht in Luft auflösen und daß du, wenn du jemanden suchst und nicht findest, aus irgendwelchen Gründen an der falschen Stelle suchst.
EINS
Ich glaube, es geht dabei um Liebe: Je mehr man eine Erinnerung liebt, desto stärker und seltsamer ist sie.
VLADIMIR NABOKOV
DELIA
Kein Mensch lebt in dieser Welt, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gibt Spuren wie Kreditkartenabrechnungen und Terminkalender und Versprechen, die du anderen gegeben hast. Es gibt mikroskopische Spuren wie Fingerabdrücke, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Und selbst wenn nichts dergleichen vorhanden ist, bleibt der Geruch. Wir leben in einer Wolke, die uns ständig umgibt, egal, was wir tun. Denn wir stoßen beständig Hautzellen ab, Tausende pro Minute.
Heute laufe ich hinter Greta her, die ihr Tempo beschleunigt, als wir das unwegsame Dickicht am Fuß des Berges erreichen. Der Schlamm, der mir bis zu den Oberschenkeln spritzt, scheint meinen Bluthund nicht im geringsten zu stören. Gerade die unangenehmen Bedingungen, die das Fortkommen erschweren, haben dafür gesorgt, daß diese Spur bewahrt blieb.
Der Officer von der Polizei in Carroll, New Hampshire, der mich begleiten soll, ist zurückgefallen. Als er das Gelände sieht, das Greta durchackert, schüttelt er den Kopf. »Vergessen Sie's«, sagt er. »Da wäre eine Vierjährige doch nie im Leben durchgekommen.«
Wahrscheinlich hat er recht. Aber eines macht er sich nicht klar: Um diese Zeit am Nachmittag, wenn die Sonne langsam untergeht, kühlt die Erde ab und die Luftströme bewegen sich bergab, was folgendes bedeutet: Obwohl das Mädchen wahrscheinlich ein Stück entfernt, womöglich über wegsameres Gelände gegangen ist, nimmt Greta die Witterung dort auf, wo sie hintreibt. »Greta ist anderer Ansicht«, sage ich.
In meinem Beruf kann ich es mir nicht leisten, meiner Partnerin nicht zu vertrauen. Im Vergleich zu einer Hundenase ist meine Nase nahezu geruchsunfähig. Wenn Greta mir also bedeutet, daß Holly Gardiner vom Spielplatz des Kindergartens Sticks & Stones losspaziert und den Mount Deception hochgestapft ist, dann werde ich genau da hochgehen, um Holly zu finden.
Greta zerrt am Ende der fünf Meter langen Leine und hetzt ein ganzes Stück in flottem Tempo voran. Sie ist ein wunderschöner Bluthund, mit schwarzer Gesichtszeichnung in dem ansonsten samtweichen, braunen Fell und dem ungelenken Körper eines Mädchens, das den Tänzerinnen immer nur vom Rand aus zusieht. Sie umkreist zweimal einen glatten, nackten Felsen, dann blickt sie zu mir hoch, und
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