Hackenholt 06 - Reichskleinodien
die leeren Augenhöhlen, die Fliegen und Maden und die angetrocknete Pfütze, die sich im Verlauf des Zersetzungsprozesses auf dem Linoleumbelag am Fußboden gebildet hatte.
Der Hauptkommissar richtete seine Aufmerksamkeit auf das restliche Wohnzimmer. Ein Sessel lag umgestürzt seitlich vom Couchtisch, daran entlang zog sich eine breite, verwischte Blutspur, die unter dem Toten endete. Der Fußboden war übersät mit Müll: zerrissene Zeitschriften, Bücher und zerbrochenes Geschirr lagen herum. Sogar ein zertrümmerter Laptop war in dem Chaos auszumachen. Es sah ganz danach aus, als habe jemand nach etwas gesucht und sich anschließend abreagiert, weil er es nicht gefunden hatte. Im Schlafzimmer bot sich ein ähnliches Bild: Die Matratze war zur Hälfte vom Bett gezerrt, und die Federbetten waren aufgeschlitzt worden. Kleider lagen auf dem Fußboden verstreut, Möbel waren zum Teil umgestürzt. Heimlich, still und leise war das mit Sicherheit nicht vonstattengegangen. Einer der Nachbarn musste etwas gehört haben.
Langsam ging Hackenholt zurück in den Flur und besah sich die Wohnungstür. Den Spuren am Rahmen nach zu urteilen, war sie mit einer Brechstange aufgestemmt worden.
»Als wir eintrafen, gab es keinerlei optische Auffälligkeiten«, erklärte ein Uniformierter, dem der Blick des Hauptkommissars nicht entgangen war. »Die Kollegen von der Feuerwehr haben die Tür so zugerichtet, weil sie den hochwertigen Schließzylinder nicht öffnen konnten. Es war abgesperrt.«
Hackenholt runzelte die Stirn. Der Täter sollte in aller Seelenruhe zugeschlossen haben, als er abgehauen war? Kaum zu glauben. Oder handelte es sich bei dem Toten doch nicht um Bülent Alkan? Der hätte vielleicht aus Gewohnheit unbewusst hinter sich abgeschlossen.
»Wollen wir mit den Hausbewohnern sprechen? Dr. Puellen wurde aufgehalten. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis er hier eintrifft.« Stellfeldt war zu Hackenholt an die Tür getreten.
Der Hauptkommissar wandte sich zu seinem Kollegen und nickte. Ihm war alles recht, um die Wohnung verlassen zu können – auch wenn er wusste, dass er den Geruch mit Sicherheit noch länger in der Nase haben würde. Insgeheim bewunderte er Christine Mur, die den Unbilden auch diesmal wieder stoisch trotzte – vielleicht wäre stur das richtigere Wort gewesen.
Auf jeder Etage gab es zwei Wohnungen. Der Kollege von der Schutzpolizei informierte Hackenholt sogleich, dass in der anderen Mansardenwohnung niemand zu Hause war.
Ähnlich sah es mit den Bewohnern in den darunterliegenden Stockwerken aus: Alle schienen ihrem Tagesgeschäft nachzugehen. Sogar die Frau, die mit ihrer Beschwerde über den üblen Geruch die Wohnungsöffnung initiiert hatte, war nach einer kurzen Vernehmung durch den Kriminaldauerdienst in die Arbeit gefahren.
Hackenholt drückte auf die Klingel der rechten Erdgeschosswohnung. Als er sich schon abwenden wollte, weil er annahm, dass auch hier niemand zu Hause war, hörte er schlurfende Schritte. Eine junge Frau in Schlafanzug und Bademantel öffnete. Ihr war anzusehen, dass sie krank war.
»Maja Schütz?«, fragte Stellfeldt, der sich die Namen der Bewohner notiert hatte, die laut Einwohnermeldeamt im Haus lebten.
Die junge Frau schüttelte den Kopf und krächzte heiser: »Sonja Lehmann.«
»Oh«, sagte Stellfeldt überrascht, »Sie sind hier gar nicht gemeldet.«
»Ich weiß, ich hätte mich schon längst darum kümmern müssen«, druckste die junge Frau herum. »Aber ich bin erst seit dem Wintersemester in Nürnberg und habe es einfach noch nicht geschafft, den ganzen Papierkram zu erledigen. Außerdem wohne ich eigentlich –«
»Das ist uns völlig egal«, unterbrach Hackenholt sie schnell, weil er sich sicher war, dass sonst eine Litanei an Ausreden folgen würde. »Wir haben nur ein paar Fragen an Sie, Frau Lehmann. Können wir kurz reinkommen?«
»Wenn Sie keine Angst haben, sich anzustecken.« Sie zuckte mit den Schultern und ging den Beamten voran in die Gemeinschaftsküche. »Setzen Sie sich, ich hole mir bloß schnell Strümpfe und einen Pullover, sonst wird es mir zu kalt.«
Hackenholt sah sich neugierig um: eindeutig eine Studentenbude. Das wichtigste Utensil schien eine Mikrowelle zu sein, die auf einer der wenigen Arbeitsflächen thronte.
Auf dem Herd stand eine Espressokanne, im Spülbecken stapelte sich schmutziges Geschirr.
»Worum geht es denn?«, fragte die junge Frau, als sie zurück war. »Da herrscht ja ein ziemlicher Betrieb vor dem
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