Hades und das zwoelfte Maedchen
„Jetzt komm. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Endlich nahm James seine Hand, und im selben Moment zog Henry ihn mit sich durch den Treibsand des flirrenden Nichts zwischen dem Vorzimmer und dem Ort, an dem er sein wollte. Jemanden über eine so große Entfernung mitzunehmen war nie besonders angenehm, aber James war wenigstens klug genug, sich nicht zu sträuben.
Als Henry die Augen öffnete, standen sie im Inneren einer Burg aus dem elften Jahrhundert. Für Henry sah sie aus wie jede andere, aber James fiel die Kinnlade herunter, als er seine Umgebung in sich aufnahm.
„Ist das …?“, setzte er an, und Henry zögerte.
„Mir ist bewusst, dass wir einander nicht mehr so nahestehen wie früher einmal, und ich fürchte, zwischen uns ist zu viel vorgefallen, als dass wir je wieder unbeschwert miteinander umgehen könnten. Aber wir sind immer noch eine Familie, und …“ Er hielt inne. „Es war grausam von mir, dich von hier fernzuhalten, was auch zwischen uns passiert ist. Jeder hat ein Recht auf sein persönliches Glück, selbst wenn er es nur unter den Toten finden kann. Auch wenn ich dir meine Hilfe nicht für immer versprechen kann, werde ich dafür sorgen, dass du hierherkommen kannst, wann immer du es wünschst.“
Mit offenem Mund starrte James ihn sprachlos an, und Henry verzog das Gesicht. Er hasste diesen Ausdruck. Als wäre es so unglaublich, dass er mal etwas Nettes tat.
„Geh schon“, sagte er. „Ich warte hier, bis du fertig bist.“
„Ich weiß nicht …“ James schienen immer noch die Worte zu fehlen, und ohne Vorwarnung stürzte er sich auf Henry, um ihn fest zu umarmen. „Danke.“
Es war sehr lange her, dass irgendeins seiner Familienmitglieder gewagt hatte, ihm körperlich so nahe zu kommen, und unbehaglich klopfte Henry seinem Neffen auf den Rücken. „Gern geschehen. Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.“
Mit einem breiten Grinsen löste James sich von ihm und marschierte den Korridor hinunter, geleitet von seiner rätselhaften Fähigkeit, immer genau zu wissen, wo sein Ziel sich befand. Aus reiner Neugier – oder vielleicht, um sich zu beweisen, dass es auch in der Unterwelt wahres Glück geben konnte – folgte Henry ihm gemächlich.
James trat in ein sonnendurchflutetes Zimmer, in dem allen Naturgesetzen zum Trotz ein Baum mitten aus dem steinernen Fußboden wuchs. Von der Tür aus beobachtete Henry, wie James auf ein dunkelhaariges Mädchen zuging, das unter den tiefhängenden Zweigen saß und genüsslich einen Apfel verputzte. Sie unterhielt sich in leisem Ton mit einer Frau, die ihr zu sehr ähnelte, um irgendjemand anders als ihre Mutter zu sein, doch in der Sekunde, als sie James entdeckte, erschien ein Leuchten auf ihren Zügen.
„James?“, fragte das Mädchen, und die strahlenden Augen wurden groß. Begeistert warf sie ihm die Arme um den Hals und küsste ihn direkt auf den Mund, ohne jede Scham. „Wird aber auch verdammt noch mal Zeit. Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie lange ich schon darauf warte, dass du uns abholst?“
„Tuck“, hauchte er und starrte sie an, als sei sie das Schönste, was er je gesehen hatte. Eine gewisse Traurigkeit lag in der Art, wie er ihren Namen murmelte – etwas, das Henry viel zu sehr an sich selbst erinnerte. Manchmal war es schwer, in Erinnerung zu behalten, dass er nicht der Einzige war, der litt.
James zog sie an sich, schlang die Arme so fest um sie, dass sie nicht einmal hätte entkommen können, wenn sie es versucht hätte. Für einen langen Moment verharrten sie so, ineinander verschlungen, murmelten Dinge, die Henry nicht hören konnte. Er wandte den Blick ab. Alles hätte er gegeben, um so etwas zu erleben. Alles.
Schließlich lösten sie sich voneinander, und mit einem Funkeln in den Augen sah Tuck zu ihm auf. Offensichtlich betete sie ihn an. „Das ist meine Mutter“, stellte sie ihm die Frau vor. „Mutter, das ist James, der Junge, von dem ich dir erzählt hab.“
James begrüßte die Frau wie eine vertraute Freundin, zog auch sie in seine Arme. „Du hast eine brillante Tochter. Tuck ist das erstaunlichste Mädchen, das mir je begegnet ist.“
„Natürlich ist sie das“, entgegnete die Frau und lachte. „Und nach allem, was sie mir erzählt hast, bist du auch nicht ohne.“
Eine Weile plänkelten die drei so herum, dann zog James etwas aus seiner Hosentasche. „Ich hab hier was für dich, worauf ich aufgepasst hab“, erklärte er und hielt Tuck ein kleines
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