Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
bis die Sicht durch die Scheibe langsam wiederkehrt.
Es ist Donnerstag, der 16. November 2000.
* * *
Mit einem Mal wird Anna Diete hektisch. Die graublauen Augen der mittelgroßen schlanken Frau sprühen förmlich vor Eifer. Sie spitzt ihren schmalen Mund, so dass sich zwei tiefe Falten an den Mundwinkeln bilden und stößt dem hochgewachsenen Mann, der auffällig gerade neben ihr sitzt, den Ellenbogen in die Seite. Jan Swensen zuckt zusammen und wendet sich erstaunt herum. Er ist vor zwei Monaten dreiundfünfzig geworden, wirkt aber noch wesentlich jünger, trotz seiner leicht gelichteten und grauen Haare. Anna Diete deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung Eingangstür, durch die gerade ein elegant gekleideter Mann in den Saal tritt. Swensen schätzt ihn auf Mitte fünfzig. Die dunklen Haare, die mit Gel nach hinten gekämmt am Kopf kleben, glänzen im Lampenlicht.
»Da! Das ist das schwarze Schaf der gesamten Storm-Experten, die da vorne am Podium rumstehen!«
Der Mann steuert direkt auf die kleine Gruppe von Männern zu und begrüßt jeden mit Handschlag, der von fast allen deutlich unwillig erwidert wird.
»Und wer ist das?«, fragt Jan Swensen etwas konfus und registriert die auffällig feingliedrigen Hände des Mannes und seine aalglatte Art sich zu bewegen.
Seit mehreren Jahren hatte Anna Diete vergeblich versucht ihn zu einem der Theodor-Storm-Symposien, die regelmäßig jeden Winter in Husum stattfinden, mitzuschleifen. Dieses Jahr hatte sich ihre penetrante Werbung endlich ausgezahlt und Swensen war mit von der Partie. Nicht gerade einfach für einen Hauptkommissar mit unberechenbarem Dienst. Es brauchte einige Überredungskunst bei seinen Kollegen um noch so kurzfristig seine freien Tage genau auf diese Storm-Veranstaltung zu legen. Seitdem ist Anna schier aus dem Häuschen. Selbst die frühen Anfangszeiten, wie z.B. am heutigen Samstag um 9:00 Uhr, sind für sie als chronische Langschläferin plötzlich kein Problem mehr.
»Wer das ist? Mein Gott, Jan! Du weißt aber auch schlicht gar nichts! Das ist Ruppert Wraage!«
»Wer?«
Er weiß, dass Anna als grandiose, aber leider noch unentdeckt gebliebene Theodor-Storm-Hobby-Koryphäe, bei dieser Frage völlig auskicken wird. Aber was bleibt ihm übrig, wenn er überhaupt irgendetwas von diesem Fachsimpeln hier begreifen will.
»Ruppert Wraage«, faucht sie gereizt, in dem sie durch ihre glatten, naturroten Haare fährt und flehend gen Himmel blickt, »ist der Typ, der seit geraumer Zeit vehement die Meinung vertritt, dass Theodor Storm in seinen letzten Jahren neben dem Schimmelreiter heimlich einen Roman geschrieben hat.«
»Ja, und?«
»Ja und, ja und!«
Jetzt hat er endgültig Annas Nerv getroffen.
»Mensch, Jan! Theodor Storm hat sein Leben lang nur Novellen geschrieben!«
»Aber der Schimmelreiter ist doch ein Roman!«
»Nein, eine Novelle!«
Jan Swensen ist der Unterschied zwischen Novelle und Roman nicht nur egal, er hat auch keine Ahnung. Aber das kann er bei dem Erregungszustand, in dem sich Anna gerade befindet, unmöglich zugeben. Also versucht er, indem er ihr Fachwissen abfragt, sie wieder auf den Boden zurückzuholen.
»Und was würde das bedeuten, wenn Storm einen Roman geschrieben hätte?«
»Das wäre eine Sensation! Was sage ich, eine Weltsensation!«
Jan Swensen kennt Anna Diete, die auf den Tag genau neun Jahre jünger ist als er, seit acht Jahren. Beide wurden am 2. September geboren, er 1947, sie ’56. Während ihrer gemeinsamen Beziehung, die man seit sechs Jahren als fest bezeichnen könnte, hatte ihre Theodor-Storm-Begeisterung nicht einen Hauch nachgelassen.
Er dagegen stand seit seiner Grundschulzeit in Husum mit Theodor Storm auf Kriegsfuß. Im Deutschunterricht wurde der große Sohn der Stadt als die Nummer eins gehandelt. So durfte er den ›Schimmelreiter‹ rauf und runter vorlesen, laut vorlesen. Danach folgten noch ›Carsten Curator‹ und dann ›Hans und Heinz Kirch‹. Wenn er heute an sein Gestotter zurückdenkt, läuft ihm immer noch eine Gänsehaut den Rücken herunter. Die Schulaufführung der ›Regentrude‹ zum 75sten Todestag Storms gab ihm dann den Rest. Wegen seiner hervorragenden Bodenturnleistungen wurde er für die Hauptrolle des ›Feuermanns Eckeneckepenn‹ ausgeguckt. Monatelang hatte er den Text gebüffelt. Am besagten Abend zwängte er sich in sein Kostüm aus roten Stoffstreifen. In der vollbesetzten Turnhalle wirbelte er mit einem Flickflack auf die Bühne, fuchtelte
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