Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
wild herum und dann passierte, was passieren musste, er hatte den Text vergessen. Nach dieser Blamage nahm er nie wieder ein Buch seines Heimatdichters in die Hand.
Mit Annas Storm-Enthusiasmus hat er sich unterdessen, innerlich schmunzelnd, arrangiert, denn sie entwickelt die gleiche Begeisterung auch in ihrem Beruf als Psychologin. Im Laufe der Zeit hatte er so manch guten Tipp für seine Ermittlungen bekommen.
»Meine Damen und Herren! Ich begrüße sie alle recht herzlich zum 18. Theodor-Storm-Symposion.«
Die Mikrofonansage holt Swensen aus seinen Gedanken zurück.
»Das ist Dr. Herbert Kargel, die anerkannteste Storm-Autorität der Storm-Gesellschaft hier in Husum«, flüstert Anna ihm zu.
»Der heutige Abend steht unter einem besonders umstrittenen Thema: Hat Theodor Storm einen Roman geschrieben? Diese These, die fast alle seriösen Storm-Kenner kategorisch ablehnen, wird vertreten von Ruppert Wraage«, sagt Kargel mit unterkühlter Stimme und schaut abschätzig auf Wraage herunter, der rechts neben ihm Platz genommen hat. Seine geballte Abneigung ist bis in die Körperhaltung zu spüren.
»Herr Wraage hat nach eigenen Aussagen schon einige Jahre zum Thema geforscht und versucht nun anhand eines von ihm entdeckten Briefes von Theodor Fontane an Franz Kugler seine These zu untermauern. Herr Wraage hat nun das Wort!«
Im selben Moment, in dem dieser sich von seinen Platz erhebt, summt in Swensens Jackentasche die Melodie: Üb’ immer Treu und Redlichkeit. Das Handy ist ein ironisches Geschenk der Kollegen zu seinem letzten Geburtstag gewesen. Sie wollten ihm damit deutlich machen, dass seine Ablehnung gegen diese Technik in der heutigen Zeit lächerlich ist.
Mindestens die Hälfte der zirka achtzig anwesenden Personen im Saal schauen missbilligend. Swensen setzt ein reuiges Gesicht auf und nimmt das Gespräch entgegen.
»Moment, etwas Geduld!«
Der Unmut wird noch größer, als er die Stuhlreihe verlässt und sich an den unwillig Aufstehenden vorbeiquält. Erst vor der Saaltür nimmt er den Hörer wieder ans Ohr.
»So, jetzt geht’s. Swensen hier.«
»Mielke! ’Schuldigung dass ich dich störe, aber ich hab grade brisante Post erhalten und bräuchte deinen Rat!«
Stephan Mielke schiebt heute Bereitschaftsdienst. Er ist erst neu bei der Kripo Husum und daher noch etwas unsicher. Zu Jan Swensen hat er sofort Vertrauen gefasst, was sich schon allein durch häufige Anrufe außerhalb der Dienstzeit bemerkbar macht.
»Brisante Post?«
»Ja, ich hab hier ’nen Umschlag mit etlichen Fotos zugeschickt bekommen, auf denen eine Leiche zu sehen ist, die irgendwo an der Küste im Watt ’rumliegen muss. Sieht übel zugerichtet aus. Stinkt verdammt nach Mord.«
»Bleib ruhig, ich komm sofort.«
Leise schleicht Swensen in den Saal zurück. Es hört sich an, als wenn Ruppert Wraage gerade zur Höchstform aufläuft. Seine Stimme klingt fast dämonisch, als er wild gestikulierend ins Mikrofon faucht.
»Schließlich hat selbst seine Tochter Gertrud Storm schon behauptet, dass der Dichter ein groß angelegtes autobiografisches Werk schaffen wollte. Es sollte unter dem Titel ›Aus der grauen Stadt am Meer‹ veröffentlicht werden. Der Plan für dieses Gemisch aus Wahrheit und Dichtung fand sich allerdings erst in seinem Nachlass. Und ich sage es hier noch mal ganz deutlich, auch damit hatte vorher kein Stormexperte gerechnet!«
Mit Handzeichen gelingt es Swensen nach geraumer Zeit die Aufmerksamkeit von Anna Diete zu erringen, die offenbar alle Worte von Ruppert Wraage nur so in sich aufsaugt. Sie kapiert sofort, dass er weg muss und verleiht ihrem Ärger mit einer Flappe Ausdruck.
Draußen vor der Tür fegt der Sturm den Regen waagerecht vor sich her. Als Swensen das Innere seines Wagens erreicht, hängen ihm seine wenigen Haare in tropfenden Strähnen ins Gesicht. Die Regenjacke ist voller Wasserflecken.
»Die graue Stadt macht ihrem Namen mal wieder alle Ehre«, denkt er und verfolgt einen Moment gebannt, wie ein Haufen Blätter in skurrilen Formationen über die Straße fegen, rechts auf den Bürgersteig abdrehen und wie Geschosse in die Hecke eines Vorgartens einschlagen.
Die Strecke bis zur Polizeiinspektion ist mit dem Auto nur kurz. Keine zehn Minuten später sitzt er bei Stephan Mielke im Büro, zieht sich Latexhandschuhe über und sieht die Fotos durch.
»Kein Absender, kein Anschreiben, nichts«, sagt der.
Swensen nimmt jeden Abzug einzeln in die Hand, indem er sie nur mit den Fingerspitzen
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