Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
hat sich aufgelöst. Er will so schnell wie möglich ans Festland und watet auf dem direkten Weg in den Priel. Doch in der Mitte läuft ihm das Wasser oben in die Gummistiefel und, obwohl er auf Zehenspitzen weitergeht, hat er sofort nasse Füße. Am anderen Ufer hetzt er in ausladenden Schritten auf den grauen Strich Küste zu, der in der Ferne die Richtung angibt. Mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch liegt vor ihm. Bei jedem Schritt quatscht das Wasser in und der Wattschlick unter seinen Stiefeln. Er zieht sich die Wollmütze ins Gesicht und stemmt sich gegen den scharfen Wind, der ihn jetzt von vorne trifft.
Nur weg von hier.
Die beißende Kälte dringt nicht in sein Bewusstsein. Im Inneren versucht er krampfhaft Ordnung in sein Chaos zu bringen. Wenn Irene ihn nicht angerufen hätte, würde er jetzt, wie Nicola, seine Frau, es natürlich annimmt, bei der Eröffnung seiner Ausstellung im New Yorker Soho anwesend sein. Aber vorgestern hatte er mit seinem Galeristen telefoniert und ihm vorgelogen, dass er mit Grippe im Bett läge. Dann hatte er ein Hotelzimmer in St. Peter gebucht und war wie angekündigt abgereist, aber nicht nach New York, sondern mit dem Geländewagen über Itzehoe nach Husum gebrettert, Irene abgeholt und dann sofort weiter nach St. Peter. Und jetzt das hier! Wie sollte er Nicola das je erklären.
Scheiße! Sie wird mir den Geldhahn abdrehen, das ist sicher. Aber irgendwie muss ich die Polizei informieren. Irene braucht ja davon nichts zu erfahren.
Vom Westen her schieben sich die Wolken zu schwarzen Türmen zusammen. Der Himmel verfinstert sich zusehends. Endlich erreicht er den Holzsteg, der durch die Sanddünen führt. Da erfaßt ihn ein innerer Zwang und er dreht sich noch einmal um. Die Leiche ist von hier aus nicht mehr zu erkennen. Im gleichen Moment reißt die Wolkendecke auf. Durch die Lücke fallen die rötlichen Strahlen der Vormittagssonne wie ein Scheinwerferlicht vom Himmel.
Das ist ja schon fast unheimlich, denkt er.
Das Grauen ist verschwunden, ein Spuk – vom Wasser überflutet. Vor ihm erstrahlt der Küstenstreifen in einem gedämpften Orange. Ein bedrückend schöner Anblick. Mechanisch nimmt er die Kamera hoch und drückt noch ein paar Mal auf den Auslöser.
Jetzt braucht hier nur noch eine Gestalt mit flatterndem Mantel auf einem hageren Schimmel vorbeizureiten, kommt es ihm in den Sinn, und er muss für einen kurzen Moment lächeln. Dann tanzen die Lichtpunkte auf der Wasseroberfläche ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er hört, wie sich das blubbernde Geräusch in seinen Stiefeln mit den sandigen Schritten auf den Holzplanken vermischt, bis er die Betontreppe erreicht, die auf den Deich führt. Die Stufen, viel zu niedrig und zu lang, zwingen ihn förmlich dazu, zwei auf einmal zu nehmen. Oben auf der Deichkuppe verschwindet das gespenstische Licht wieder hinter der Wolkendecke. Von unten weht der zarte Ton der Windharfe zu ihm hinauf. Er lauscht kurz ihrer immerwährenden, gleichen Melodie. Unten auf dem Parkplatz steht einsam sein Mitsubishi L2000 Offroader. Außer ihm hat sich niemand hierher verirrt. Der Wagen steht gleich neben dem Kassenhäuschen, das um diese Jahreszeit immer geschlossen ist. Der kleine Glasbau sieht aus wie ein leeres Aquarium. Dahinter steht eine baufällige Scheune, in der Strandkörbe überwintern. Vor dem Deich ist es mit einem Mal wieder friedlich, der Spuk ist verflogen. Durch den zugezogenen Himmel dringt nur noch ein fahles Licht. Wabernder Nebel steigt aus den flachen Wiesen. In der Ferne blöken sich die Schafe an. Mit klammen Fingern braucht es einige Versuche um das Türschloss zu treffen. Kaum sitzt er hinter dem Steuer, beschlägt die Frontscheibe von seinem Atem. Er startet. Das Radio brüllt los.
»Das waren die Nachrichten. Und jetzt das Wetter.«
Ein Druck auf die Taste reduziert die Lautstärke auf ein erträgliches Maß.
»Vom Atlantik her überquert ein Tiefdruckgebiet Norddeutschland. Es ist mit orkanartigen Windböen bis zu Windstärke zehn zu rechnen. Noch heute Nacht wird die Schlechtwetterfront auf die schleswig-holsteinische Westküste treffen. Vor einer Sturmflut wird gewarnt.«
Ich denke, ich breche diesen saublöden Trip hier ab und kurve noch möglichst vor dem Scheißwetter nach Hamburg zurück. Für Irene hat sich bei mir einfach ein wichtiger Termin ergeben und wenn ich die nächsten Tage im Atelier übernachte, merkt Nicola auch nichts von der Sache.
Er dreht die Heizung voll auf und wartet,
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