Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Hause war es nie laut oder grob zugegangen. Bis auf die hässlichen Momente, in denen Gloria die Grenzen überschritten hatte. Auf die Frage, ob sie als Familie jemals glücklich gewesen waren oder zumindest eine entspannte Atmosphäre geherrscht hatte, wusste Sybill im Augenblick keine Antwort. Wärme und Zuneigung hatten nie eine vorrangige Rolle gespielt und wurden nie offen gezeigt.
Die Griffins waren eben keine besonders emotionale
Familie, sagte Sybill sich. Für Sybill zählte vor allem der Intellekt, schon immer. Auch als Abwehr gegen Glorias erschreckende Launenhaftigkeit. Das Leben war ruhiger, wenn man sich auf seinen Kopf verließ. Sybill wusste das. War völlig überzeugt davon.
Doch was jetzt in ihr wühlte, waren Emotionen. Sie fühlte sich als Lügnerin, als Spionin und Eindringling. Als Sybill sich sagte, dass sie alles nur für das Wohlergehen des Jungen tat, ließ die Übelkeit nach. Das Kind war ihr Neffe, und sie besaß jedes Recht, hier zu sein und sich eine Meinung zu bilden. Dieser Gedanke beruhigte sie.
Objektivität, ermahnte Sybill sich und presste die Fingerspitzen an die Schläfen, um den bohrenden Schmerz zu verjagen. Mit Objektivität würde sie die Situation durchstehen, bis sie alle Fakten und Daten besaß und ihr Urteil feststand.
Ruhig trat Sybill aus dem Bad und ging die wenigen Schritte durch die Halle, auf das ohrenbetäubende Getöse des Baseballspiels im Wohnzimmer zu. Seth lag zu Cams Füßen ausgestreckt am Boden und schrie empört den Bildschirm an. Cam schwenkte sein Bier in der Hand und stritt sich mit Phillip über die letzte Entscheidung des Schiedsrichters. Ethan verfolgte einfach das Spiel, und Aubrey lag zusammengerollt in seinem Schoß und war trotz des Lärms eingeschlafen.
Das Wohnzimmer selbst wirkte behaglich, etwas schäbig vielleicht, aber bequem eingerichtet. Ein Klavier stand schräg in der Ecke. Eine Vase mit Zinnien stand auf dem polierten Deckel des Instruments. Daneben reihten sich Dutzende von Fotos in schmalen Rahmen, die meist Schnappschüsse zeigten. In Seths Armbeuge stand eine halb leere Schüssel mit Kartoffelchips. Der Teppich war mit Krümeln übersät. Schuhe lagen herum, die Sonntagszeitung und ein abgenagtes Stück Seil.
Es war schon fast dunkel, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, eine Lampe anzuknipsen.
Sybill wollte sich zurückziehen, da sah Phillip zu ihr herüber. Er lächelte und streckte die Hand aus. Sybill ging zu ihm hinüber und ließ sich von ihm auf die Sessellehne ziehen. »Zweite Hälfte der neunten Runde«, murmelte er. »Wir liegen einen Punkt in Führung.«
»Sieh dir das an, wie dieser neu eingewechselte Werfer das arme Schwein total verarscht.« Seths Stimme klang tief und voller Schadenfreude. Er zuckte nicht einmal zusammen, als Cam ihm die eigene Mütze auf den Kopf schlug. »Yippie! Er hat ihn ausgemacht. Der Schläger ist raus!« Seth sprang auf und vollführte einen Freudentanz. »Wir sind die Nummer Eins. Mann, habe ich einen Hunger.« Er raste in die Küche, von wo zu hören war, wie er nach etwas Essbarem bettelte.
»Siege im Baseball regen den Appetit an«, erklärte Phillip und küsste lässig Sybills Hand. »Wie steht es mit Anna?«
»Sie scheint alles im Griff zu haben.«
»Dann lass uns nachsehen, ob sie auch Antipasti gemacht hat.«
Phillip zog Sybill in die Küche. Innerhalb weniger Augenblicke war der Raum voller Menschen. Aubrey legte den Kopf an Ethans Schulter und blinzelte schläfrig wie eine Eule, während Seth von einem gut gefüllten Teller Happen in den Mund stopfte und detailliert den Spielverlauf kommentierte.
Alle schienen in Bewegung, es wurde gleichzeitig gegessen und geredet, beobachtete Sybill. Phillip drückte ihr noch ein Glas Wein in die Hand, bevor er weggerufen wurde, damit er sich um das Brot kümmerte. Weil Sybill sich in seiner Nähe weniger unsicher fühlte, folgte sie ihm dicht auf den Fersen, während in der Küche das Chaos regierte.
Phillip schnitt dicke Scheiben von dem italienischen
Brot ab und bestrich sie mit einer Mischung aus Butter und Knoblauch.
»Geht es hier immer so zu?« flüsterte Sybill hinter ihm.
»Nein.« Phillip hob sein Weinglas und berührte leicht das von Sybill. »Aber manchmal ist es wirklich laut und chaotisch.«
Als Sybill endlich in Phillips Wagen saß und er sie zum Hotel zurückfuhr, dröhnte ihr Kopf. Es gab so viel zu verarbeiten. Bilder, Geräusche, Charaktere und Eindrücke. Sybill hatte hochoffizielle diplomatische
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