Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Spinner«, meinte Danny mit der ganzen Geringschätzung des älteren Bruders. »Bis später, Seth.« Er rannte hinter Will her, drehte sich kurz um und winkte Sybill im Rückwärtslaufen zu. »Tschüss.«
»Will ist eigentlich gar kein Spinner«, verteidigte Seth den Kleinen. »Er ist nur ein kleiner Junge mit einer grossen Klappe. Eigentlich ist er ganz cool.«
»Jedenfalls ist er sehr fröhlich.« Sybill wechselte die Schultertasche auf die andere Seite und lächelte Seth an. »Stört es dich, wenn ich dich begleite?«
»Schon okay.«
»Hast du vorhin etwas über einen Geografietest gesagt?«
»Ja. Heute hatten wir einen. War ein Klacks.«
»Gehst du gern in die Schule?«
»Na ja.« Er zuckte die Achseln. »Muss ja wohl.«
»Ich bin gern zur Schule gegangen. Es hat mir Spaß gemacht, neue Dinge zu lernen.« Sie lachte. »Jetzt klinge ich wie ein Spinner.«
Seth schaute schräg zu ihr hoch, kniff die Augen zusammen und studierte ihr Gesicht. Klassefrau, hatte Phillip sie genannt, erinnerte er sich. Das stimmte wohl. Sie hatte hübsche Augen, das helle Blau hob sich stark von den dunklen Wimpern ab. Sie hatte nicht so dunkle Haare wie Anna und nicht so blonde wie Grace. Aber ihre Haare glänzten. Es gefiel ihm, wie sie sie glatt hinter die Ohren strich. So konnte man ihr Gesicht gut sehen.
Vielleicht würde er sie mal zeichnen. Das wäre cool.
»Sie sehen nicht aus wie eine Spinnerin«, verkündete Seth in der Sekunde, in der Sybill spürte, wie ihr bei seinem langen, eindringlichen Blick die Hitze in die Wangen stieg! »Das wäre auch doof.«
»Aha.« Sie war sich nicht sicher, ob sie sich gerade als Depp qualifiziert hatte, und zog es vor, nicht zu fragen. »Welche Fächer magst du am liebsten?«
»Weiß nicht. Es ist eben eine Menge – Zeug«, antwortete er und wurde dann etwas genauer. »Jedenfalls mag ich lieber, wenn wir was über Leute lernen als über Sachen.«
»Ich habe schon immer gern Menschen beobachtet.« Sybill blieb stehen und deutete auf ein kleines, einstöckiges Haus mit einem gepflegten Vorgarten. »Ich schätze, hier wohnt eine junge Familie. Die Eltern gehen beide zur Arbeit und haben ein Kind im Vorschulalter, wahrscheinlich einen kleinen Jungen. Vermutlich kennen sich die beiden schon lange und haben vor weniger als sieben Jahren geheiratet.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Na ja, es ist Nachmittag, und niemand ist zu Hause. Kein Auto vor der Garage. Das Haus wirkt irgendwie verlassen. Aber da drüben stehen ein Dreirad und ein paar große Spielzeugtrucks. Das Haus ist nicht neu, aber gut in Schuss. Die meisten jungen Ehepaare sind berufstätig, um ein Haus zu kaufen und eine Familie zu haben. Dieses Paar lebt in der Kleinstadt. Junge Leute lassen sich selten in kleinen Gemeinden nieder, wenn nicht mindestens einer in dem Ort aufgewachsen ist. Also vermute ich, die Leute sind Einheimische, kennen sich von Jugend an und haben schließlich geheiratet. Wahrscheinlich bekamen sie ihr erstes Kind innerhalb der ersten drei Jahre ihrer Ehe, und das Spielzeug deutet auf einen Jungen zwischen drei und fünf hin.«
»Ziemlich cool«, fand Seth nach einigem Grübeln.
Auch wenn es töricht sein mochte, Sybill war ein bisschen stolz, die Qualifikation eines Deppen von sich abgewendet zu haben. »Ich will aber mehr wissen, du nicht auch?«
Sie hatte sein Interesse geweckt. »Was zum Beispiel?«
»Warum haben sich die beiden gerade dieses Haus ausgesucht? Was sind ihre Lebensziele? Wie sieht ihre Beziehung aus? Wer verwaltet das Geld und warum? Das gibt nämlich Hinweise auf die Machtverteilung. Wenn man Leute beobachtet, erkennt man ihre Muster.«
»Wieso ist das wichtig?«
»Ich verstehe nicht.«
»Wen interessiert das?«
Sie überlegte. »Na ja, wenn du die Muster begreifst, kannst du dir ein allgemeines Bild von der Gesellschaft machen und erfährst, warum sich Menschen in bestimmten Situationen so und nicht anders verhalten.«
»Und wenn sie es nicht tun?«
Kluger Junge, dachte sie, und wieder stieg Stolz in ihr hoch, diesmal aus einer tieferen Schicht. »Jeder passt in ein Muster. Aufgeschlüsselt nach Herkunft, Erbfaktoren, Erziehung, sozialem Umfeld, religiösen und kulturellen Wurzeln.«
»Verdienen Sie Geld damit?«
»Ja, ich denke schon.«
»Verrückt.«
Nun, so folgerte Sybill, hatte sie definitiv den Status des Deppen. »Es kann ganz interessant sein.« Sie suchte fieberhaft nach einem Beispiel zu ihrer Ehrenrettung, damit er seine Meinung über sie änderte.
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