Hafen der Träume: Roman (German Edition)
herauszufinden. Mittlerweile wusste sie, dass die Busse wenige Minuten vor Schulschluss heranratterten, ehe sich die Tore öffneten und die Kinder aus dem Gebäude strömten.
Erst Grundschule, dann Mittelstufe, dann Oberstufe.
Allein diese Beobachtung wäre eine interessante Studie über die Entwicklungsphasen der Kindheit, dachte sie. Die Kleinen mit ihren frischen, pausbäckigen Gesichtern, dann die schlaksigen, linkischen Halbwüchsigen in der ersten Phase der Pubertät. Und schließlich die erstaunlich erwachsen wirkenden Jugendlichen, jeder bereits eine eigene Persönlichkeit, die lässig und selbstbewusst die Schule verließen.
Von offenen Schnürsenkeln und Zahnlücken über Schmachtlocken und Baseball-Jacken zu ausgebeulten Jeans und glänzend herabfallendem Haar.
Kinder hatten in Sybills Leben nie eine Rolle gespielt, sie nie interessiert. Sie war in einer Erwachsenenwelt groß geworden, in der sie sich zu fügen und anzupassen hatte. In ihrer Kindheit gab es keine gelben Schulbusse,
kein wildes Indianergeheul beim Hinausdrängen in die Freiheit, kein Herumlungern auf Parkplätzen mit einem verrufenen jungen Burschen in abgewetzter Lederjacke.
Sie beobachtete die Schule wie eine Theaterbesucherin und fand die Mischung aus Drama und Komödie amüsant und aufschlussreich.
Als Seth mit einem dunkelhaarigen Jungen unter reichlich Schulterrempeln und Geschubse ins Freie rannte, beschleunigte sich ihr Puls. Kaum draußen, zog er seine Baseballmütze aus der Tasche und setzte sie auf. Ein Ritual, dachte Sybill, Symbol veränderter Regeln. Sein Freund kramte eine Hand voll Bubblegums aus der Tasche und steckte sie in den Mund.
Der Lärmpegel war beträchtlich gestiegen, sie konnte nicht einmal Fetzen von den lebhaften Gesprächen verstehen, die mit viel Ellbogenstoßen, Schulterrempeln und Boxhieben verbunden waren.
Typisch männliches Affektionsmuster, stellte sie fest.
Seth und sein Kumpel gingen an den wartenden Schulbussen vorbei den Gehsteig entlang. Ein kleinerer Junge rannte ihnen nach. Er hüpfte wie ein Gummiball auf und ab und hatte offenbar eine Menge zu erzählen.
Sybill wartete noch einen Moment, bevor sie schräg über die Straße auf die Kinder zuging, um ihren Weg zu kreuzen.
»Mann, dieser Geografietest war total läppisch. Den hätte jeder Trottel geschafft.« Seth bewegte die Schultern, um das Gewicht seiner Schultasche besser zu verteilen.
Der andere Junge formte mit dem Mund einen eindrucksvollen, pinkfarbenen Ballon, ließ ihn platzen und kaute dann weiter. »Ich weiß nicht, was man davon hat, alle Staaten und Hauptstädte zu kennen. Ich will schließlich nicht in North Dakota wohnen.«
»Hallo Seth.«
Sybill beobachtete, wie er stehen blieb, zu ihr hochblinzelte und sie dann erkannte. »Ach, hi.«
»Schluss für heute? Gehst du heim?«
»Zum Bootshaus.« Er spürte wieder dieses kleine Kribbeln im Nacken. Lästig. »Wir müssen arbeiten.«
»Da haben wir den gleichen Weg.« Sie lächelte die anderen Jungs an. »Tag, ich bin Sybill.«
»Ich bin Danny«, sagte Seths Kumpel. »Und das ist Will.«
»Freut mich, euch kennen zu lernen.«
»Heute Mittag gab’s Gemüsesuppe«, berichtete Will mit kindlichem Eifer. »Und Lisa Harbough musste sich übergeben. Alles war voll Suppe. Mr. Jim hat es aufgewischt, dann kam ihre Mom und hat sie abgeholt, und wir konnten unsere Vokabeln nicht aufschreiben.« Dabei hüpfte Will im Kreis um Sybill herum und schloss seinen Bericht mit einem Kinderlächeln, strahlend wie ein Sonnenaufgang, das sie unwiderstehlich fand.
»Hoffentlich wird Lisa bald wieder gesund.«
»Ich habe mich auch mal übergeben müssen. Da musste ich nicht in die Schule und durfte den ganzen Tag fernsehen. Ich und Danny wohnen da drüben in der Heron Lane. Wo wohnst du?«
»Ich bin nur zu Besuch hier.«
»Onkel John und Tante Margie sind nach South Carolina gezogen. Wir besuchen sie bald. Sie haben zwei Hunde und ein Baby. Das heißt Mike. Hast du auch Hunde und Babys?«
»Nein … hab’ ich nicht.«
»Du kannst welche bekommen«, erklärte er altklug. »Du musst nur ins Tierheim gehen und einen Hund holen. Das haben wir gemacht. Und du kannst heiraten und ein Baby machen, das wohnt in deinem Bauch. Das ist ganz einfach.«
»Mann, Will.« Seth verdrehte die Augen, und Sybill blinzelte.
»Wenn ich groß bin, habe ich auch Hunde und Babys. So viele ich will.« Er knipste sein Sonnenschein-Lächeln wieder an und rannte los. »Tschüss.«
»Er ist ein solcher
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