Hafen der Träume: Roman (German Edition)
kommst.«
»Die sind nicht wirklich sauer. Und außerdem habe ich mich für eine wissenschaftliche Studie zur Verfügung gestellt, stimmt’s?« Bei seinem Lausbubengrinsen musste sie dem spontanen Verlangen widerstehen, ihn zu umarmen.
»Ganz genau.« Als sie die Straße überquerten, wagte sie es, ihm die Hand auf die Schulter zu legen und glaubte zu spüren, wie er sich versteifte. Beiläufig nahm sie die Hand wieder weg. »Und außerdem können wir über mein Handy in der Werkstatt anrufen.«
»Echt? Voll cool. Darf ich?«
»Klar.«
Zwanzig Minuten später saß Sybill am Schreibtisch ihres Hotelzimmers, und ihre Finger flogen über die Tastatur.
Obwohl ich nur eine knappe Stunde mit ihm verbracht habe, weiß ich, dass das Subjekt ausgesprochen intelligent ist. Phillip sagte mir schon, dass er sehr gute Noten in der Schule hat, was ich bewundernswert finde. Es gefällt mir, dass er kluge Fragen stellt. Seine Manieren sind vielleicht ein wenig ungehobelt, aber nicht unangenehm. Er ist wesentlich offener, als seine Mutter oder ich es in seinem Alter waren. Damit meine ich, dass er ganz natürlich mit Fremden umgeht, ohne übertrieben auf höfliche Umgangsformen zu achten, auf die in meiner Erziehung so viel Wert gelegt wurde. Das ist vielleicht zum Teil auf den Einfluss der Quinns zurückzuführen. Diese Leute sind, wie ich bereits ausführte, zwanglos und salopp.
Aus seinem Umgang mit Kindern und Erwachsenen, wie ich es heute beobachtet habe, schließe ich außerdem, das er allgemein beliebt ist und von seinem Umfeld akzeptiert wird. In diesem frühen Stadium kann ich
logischerweise noch keine Schlüsse ziehen, ob es für ihn das Beste wäre, wenn er hier bliebe.
Es ist einfach nicht möglich, sich über Glorias Rechte hinwegzusetzen. Ich habe noch keinen Versuch unternommen, die Wünsche des Jungen bezüglich seiner Mutter herauszufinden.
Mir wäre es lieber, er gewöhnt sich an mich und fühlt sich in meiner Gegenwart wohl, bevor er von unserer verwandschaftlichen Beziehung erfährt.
Ich brauche mehr Zeit, um …
Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. Sie nahm den Hörer ab und überflog gleichzeitig ihre hastig getippten Notizen. »Dr. Griffin.«
»Hallo, Dr. Griffin. Wieso habe ich den Eindruck, Sie bei der Arbeit zu stören?«
Sie erkannte Phillips Stimme, den Anflug von Heiterkeit darin, und klappte mit einem Anflug von schlechtem Gewissen den Deckel ihres Laptops zu. »Weil Sie ein scharfer Beobachter sind. Aber ich nehme mir ein paar Minuten Zeit für Sie. Wie läuft’s in Baltimore?«
»Viel Arbeit. Wie finden Sie das? Das Bild zeigt ein gut aussehendes, strahlendes Ehepaar, das ihr lachendes Kleinkind in einen Mittelklassewagen setzt. Text: ›Myerstone Reifen. Ihre Familie ist uns wichtig.‹«
»Manipulativ. Der Verbraucher soll glauben, einem anderen Reifenhersteller sei die Familie nicht wichtig.«
»Ja. Das klappt. In die Autozeitschriften kommt natürlich eine andere Anzeige. Knallroter Flitzer, offenes Verdeck, am Steuer eine scharfe Blondine, die eine gewundene Bergstrasse entlangbraust. ›Myerstone Reifen. Mit uns fahren Sie sicher und kommen sicher an.‹«
»Clever.«
»Dem Kunden gefällt’s, das ist die Hauptsache. Wie läuft’s in St. Chris?«
»Geruhsam.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin Seth zufällig auf der Straße begegnet. Und ich habe
ihn engagiert, mir bei einem Experiment zu helfen. Es lief richtig gut.«
»Ach ja? Wie viel mussten Sie ihm bezahlen?«
»Einen großen Eisbecher.«
»Da sind Sie billig weggekommen. Der Bengel ist nämlich sehr geschäftstüchtig. Gehen wir morgen essen? Eine Flasche Champagner, um unseren Erfolg zu feiern?«
»Da wir gerade von geschäftstüchtig sprechen.«
»Ich denke die ganze Woche an Sie.«
»Seit drei Tagen«, verbesserte sie ihn, nahm einen Bleistift und kritzelte in ihren Notizblock.
»Und drei Nächten. Wenn ich diesen Auftrag vom Tisch habe, komme ich morgen etwas früher weg und hole Sie um sieben ab.«
»Ich weiß nicht, wohin das führen soll, Phillip.«
»Ich auch nicht. Müssen Sie es denn wissen?«
Sie wusste nur, dass keiner von beiden ein Restaurant meinte. »Es wäre jedenfalls weniger verwirrend.«
»Morgen sprechen wir darüber, vielleicht ist dann alles nicht mehr so verwirrend. Um sieben.«
Sie schaute auf ihren Block. Ohne es zu wollen, hatte sie seine Gesichtszüge skizziert. Ein schlechtes Zeichen, dachte sie. Ein gefährliches Zeichen. »Einverstanden.« Es war besser,
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