Hafenmord - ein Rügen-Krimi
östlichen Teil des Ostseebades im Buchenweg eine schöne, bezahlbare Bleibe. Sie hatte schnell zugegriffen, ohne es bislang bereut zu haben. Allerdings hatte sie auch noch keine Hochsaison auf Rügen erlebt. Manchmal hörte sie vom Balkon aus den Rasenden Roland.
Der Zugang zu den alten Gebäuden hinter der Fischfabrik war weiträumig abgesperrt, und das Gelände wurde mit Baustrahlern ausgeleuchtet. Uniformierte Polizisten suchten die Umgebung ab oder befragten Leute. Fischkutter schaukelten im Hafenbecken. Kasper Schneider kam ihr entgegen, als Romy ihren Roller abstellte. Eine Windböe blies ihr ins Gesicht und nahm ihr für einen Moment den Atem.
»Die KTU kommt gleich«, sagte er statt einer Begrüßungund fuhr sich mit beiden Händen durch den eisgrauen Haarschopf. »Die Leiche liegt im Keller.«
»Weiß man schon …?«
»Kai Richardt, fünfundvierzig, Geschäftsmann und Familienvater aus Buschvitz. Seine Frau hat ihn gestern Nachmittag als vermisst gemeldet«, erklärte er gemächlich, aber in konzentriertem Tonfall. »Er ist frühmorgens zu einer Radtour aufgebrochen und nicht wieder nach Hause gekommen. Thomas Bittner, der Inhaber der Fischfabrik, hat gerade ausgesagt, dass Richardt ihn am Morgen kurz im Büro besucht hat. Die beiden sind alte Freunde und Sportkollegen. Richardt wollte eine Kleinigkeit an seinem Fahrrad reparieren – in dem Gebäude gibt es eine Werkstatt – und dann wieder zurückfahren. Wahrscheinlich ist er dort überfallen worden. Man hat ihn in den Keller gebracht, gefesselt und totgeschlagen.«
Romy nickte. Für Kaspers Verhältnisse war das ein Vortrag mit Überlänge gewesen. »Haben wir es hier mit einem Raubüberfall zu tun?«
Kasper schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht – Geld, Ausweis und Schlüssel haben wir in seinem Rucksack gefunden. Allerdings fehlt das Handy, zumindest nach der ersten Sichtung. Und die Werkstatt sieht auch nicht nach Beutemachen aus.«
»Hat ihn bereits jemand eindeutig identifizieren können?«
»Ja. Wir haben Bittner ein Foto gezeigt, das wir im Keller gemacht haben – da unten soll niemand rumlatschen, solange die Techniker nicht durch sind«, fügte er erklärend hinzu.
»Weiß die Ehefrau schon Bescheid?«
Er schüttelte den Kopf. »Nö. Da war noch niemand. Sollten wir vielleicht anschließend zusammen machen.«
»Okay. Gehen wir.«
Meine letzte Leiche liegt schon eine ganze Weile zurück, dachte Romy, während sie Kasper ins Gebäude folgte –meine letzte berufliche Leiche, verbesserte sie sich rasch. Sie riss sich nicht um die Tatortbesichtigung, aber sie wich ihr auch nicht aus. Es erforderte Mut, genau hinzusehen, alles zu registrieren und dabei nichts zu bewerten: emotional zu bewerten. So hatte es Moritz seinen Schülern immer geraten.
Die Schule war das eine, der Einsatz das andere. Aber es war hilfreich, Ereignisse und Gegebenheiten zu versachlichen, in ihrem speziellen Kontext zu belassen und niemals auf sich selbst zu beziehen. Hätte sie das nicht frühzeitig gelernt, wäre sie keine drei Wochen bei der Sitte oder der Mordkommission geblieben.
Kasper und Romy durchquerten einen Raum, der offensichtlich als Werkstatt und Lager für Fahrräder, Zubehör und Kajaks diente. Es roch nach altem Gemäuer, feucht, erdig und dezent nach Fisch. Aber hier roch alles mehr oder weniger dezent nach Fisch. Durch eine weitere Tür gelangten sie an einen Treppenabgang. Ein kalter Luftstrom ließ Romy erschaudern. Kasper wies nach unten.
»Das Haus ist komplett unterkellert«, erklärte er. »Die Räume sind voller Gerümpel, dienen als Abstellkammern oder sind leer – sagt Bittner.«
Die Leiche von Kai Richardt lag ausgestreckt im ersten Keller rechts neben der Treppe – ein düsteres, kaltes Verlies, das – abgesehen von einigen Brettern, Holzkisten und Bohlen – leer war. Ein Strahler war direkt auf den Leichnam gerichtet, ein zweiter leuchtete den Raum aus. Romy nestelte Handschuhe aus der Innentasche ihrer Jacke und hockte sich neben ihn. Sie sammelte sich kurz, hob den Blick und sah ihn an.
Der Tote lag in seinen Radsportklamotten auf der Seite. Der Kopf war blutverkrustet, Hände und Füße waren mit dünnen Seilen straff hinter seinem Rücken gefesselt. Ein weiteres Seil verband die Fesseln miteinander und führte zu einem robusten, in der Wand verankerten Eisenring, wo esmehrfach verknotet war. Da hatte jemand ganz sichergehen wollen. Ein Knebel lag auf dem Boden. Romy wies Kasper mit beiläufigem Nicken darauf
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