Halo - Tochter der Freiheit
hin und begann.
»Ihr habt alle von der Nacht der großen Schande der Zentauren gehört, als die Söhne des Ixion die Gastfreundschaft verletzten. Der tollkühne Peirithoos, ein Mensch und Sohn des Ixion, lud seine zentaurischen Brüder und Schwestern zu seiner Hochzeit ein. Es gab ein üppiges Festmahl, und die Gäste feierten ausgelassen. Auch Kyllaros, mein Ahn, war mit seiner Frau gekommen, der schönen Hylomene, die ihr Haar mit Jasmin und Rosmarin geschmückt hatte … Das Fest schritt voran, der Mond stand bereits am Himmel, und der Wein floss in Strömen. Und da geschah es, dass der kecke Eurytion, der Stärkste unter den Zentauren, berauscht vom starken Wein die bezaubernde Hippodameia, die Braut des Peirithoos, entführte, ewige Schande über ihn. Ihr habt auch davon gehört, dass die anderen Zentauren sich im anschließenden Kampf auf die Seite des Eurytion stellten, obwohl dieser im Unrecht war. Ihr wisst, dass Thereus, der die wilden Bären des Gebirges fangen und zähmen konnte, getötet wurde, dass Phaekomos sich in sechs aneinandergenähte Löwenhäute kleidete und Dortlas sich eine Wolfskappe mit Ochsenhörnern aufsetzte … Der Held Theseus, der beste Freund des Peirithoos, kämpfte glorreich an seiner Seite … Doch genug davon. Es gab in dieser blutigen und schändlichen Nacht nur eine ehrenvolle Tat.
Kyllaros, nach dem ich benannt bin, versuchte, den Kampf zu beenden. Aber er stand zwischen seinen Zentauren-Brüdern und seinen Menschen-Brüdern, und in der Hitze der Schlacht wurde seine Stimme nicht gehört, denn alle waren berauscht vom Blut und vom Wein.
Der friedliebende Kyllaros verlor in dieser Nacht sein Leben. Ein Speer bohrte sich von hinten in sein Herz. Als Hylomene sah, wie ihr Mann verblutete, warf sie sich in seine Menschenarme, in die Speerspitze, die ihn durchbohrt hatte, um mit ihm zusammen zu sterben. Die schöne Hylomene, die Jasmin in ihren Haaren trug und ihre Kinder liebte …«
Kyllaros verstummte. In seinen Augen glitzerten Tränen, seine Kinder blickten ihn schweigend an. Nur das Zirpen der Grillen durchbrach die nächtliche Stille.
»Ist das wirklich so geschehen?«, flüsterte Perle schließlich.
»Ja, wirklich«, sagte Kyllaros.
»Und was ist mit den Kindern passiert?«, flüsterte Luzia.
»Der älteste Sohn streifte durch die Wälder, bis er unter einem Granatapfelbaum seiner großen Liebe begegnete, und die kleinen Kinder wuchsen bei den Großeltern auf«, erklärte Chariklo leise. »Sie überlebten, sie wurden groß, und sie schworen sich, ihre Leben dem Frieden zu widmen und nicht dem Kampf.«
»Für die Knaben war das schwer, denn in dieser Zeit galt man nichts, wenn man nicht kämpfte«, sagte Kyllaros. »Doch mein Ahn, der sich mit den Söhnen des Chronos verband, lernte, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, sich Respekt zu verschaffen. Er lernte, dass man kein Blut vergießen muss, wenn man Weisheit besitzt.«
»Ich wusste nicht, dass Zentauren auch Menschenbrüder haben. Also richtige Brüder, nicht Stiefgeschwister wie Halo«, sagte Arko.
»Das wusste ich auch nicht«, gab Perle zu. »Warum waren sie nicht alle Zentauren?«
»Weil sie keine Wolke zur Mutter hatten«, erklärte Luzia.
»Ich finde es überhaupt komisch, dass eine Wolke Säuglinge bekommen kann«, meinte Arko.
»Das war doch wegen Zeus«, sagte Perle. »Er hat sich immer in alle möglichen Sachen verwandelt, um Kinder zu zeugen – in einen Schwan, einen Stier, eine Wolke aus Gold …«
»Das war früher«, sagte Chariklo. »Damals geschahen viele Dinge, die heute unmöglich sind.«
»Aber warum sind sie gestorben?«, fragte Halo. »Ihnen wurde doch nur das Menschenherz durchbohrt, und trotzdem sind sie gestorben. Obwohl sie noch ihr Pferdeherz hatten.«
»Das ist richtig«, antwortete Chariklo. »Zum Leben brauchen wir beide Herzen. Und Menschen haben nur ein Herz.«
Sofort wollte Arko Halo damit aufziehen, dass sie nur ein Herz besaß, aber da kam ihm ein ganz anderer Gedanke. »Wird Halo eigentlich einen Zentaur heiraten oder einen Menschen?«, fragte er. Plötzlich wurde es ganz still.
Chariklo und Kyllaros wechselten rasch einen Blick. Ihre älteren Töchter kamen langsam ins heiratsfähige Alter, und sie hatten selber schon darüber nachgedacht, was aus Halo werden würde.
Und nun stand die Frage im Raum und musste beantwortet werden.
»Einen Menschen«, sagte Chariklo und versuchte, ihre Antwort möglichst normal klingen zu lassen.
»Was?«, quäkte Halo.
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