Halo - Tochter der Freiheit
Anweisung, sich auszuruhen.
Wochenlang musste Halo nun den Arm schonen, und damit ihr nicht langweilig wurde, nutzte sie die Genesungszeit, um Lesen zu lernen. Cheiron kam sie oft besuchen. An manchen Tagen saß er stundenlang bei ihr, denn er hatte Freude daran, ihr Lehrmeister zu sein.
»Ja, ja, unser Urvater Cheiron musste einst auch Jasons Arm versorgen, als dieser noch klein war«, erzählte er. »Und er brachte diese Fähigkeit dem Sohn Apollons bei, dem Gott Asklepios. Ihn lehrte er auch alle Heilkünste, die die Menschen heute kennen. Glaubst du, du könntest jetzt auch einen gebrochenen Arm heilen? Hast du gut aufgepasst?«
»Vielleicht«, sagte Halo zögernd. Sie war erst sieben und ziemlich sicher, dass sie so etwas nie zustande bringen würde. Aber sie hoffte, dass sie einmal tapfer genug sein würde, um es zu versuchen. Sie war sich aber ganz und gar nicht sicher.
»Man kann den Leuten nicht absichtlich die Knochen brechen, nur um die Möglichkeit zum Üben zu haben«, sagte Cheiron ernst. »Du musst jede Gelegenheit zum Lernen nutzen. Also, welche Kräuter habe ich verwendet?«
Halo rasselte die Namen der Kräuter und ihre Anwendung herunter.
»Braves Mädchen«, lobte er, »wenn du dir die Heilmittel gut merkst, wirst du den Menschen immer helfen können. Und auch den Tieren.«
Nach einem knappen Monat konnte Halo wieder Flöte spielen, nach zwei Monaten begann sie wieder mit dem Bogentraining, und nach vier Monaten war ihr Arm so stark wie zuvor, vielleicht sogar noch stärker. Als sich das nächste Mal jemand die Knochen brach, stand Halo Cheiron und Chariklo zur Seite, assistierte ihnen und lernte dabei.
»Also gut, ich werde niemals so schnell sein wie du«, sagte sie zu Arko, »aber dafür werde ich ein besserer Schütze sein. Und Leute heilen können.«
»Das kann jeder behaupten«, sagte Arko.
»Warte es nur ab«, erwiderte sie.
Eines Abends, einige Jahre nach diesem Vorfall, saß die ganze Familie beisammen und bewunderte den großen, vollen Mond, der über dem Meer aufstieg. »Papa, wenn das der Erntemond ist, dann ist es jetzt genau zehn Jahre her, dass Halo zu uns gekommen ist«, sagte Perle. »Ich finde, wir sollten ein Fest für sie feiern.«
»Mit Musik und Tanz und alle Jungen werden eingeladen?«, fragte Kyllaros.
»Na klar«, rief Perle.
Sie und Luzia waren fünfzehn und würden in einem oder zwei Jahren heiraten. Sie liebten Musik und Tanzen. Und Jungen.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Kyllaros. »Was meinst du, Chariklo?«
Chariklo lächelte. »Ich werde meine Leier stimmen und Joghurt kochen. Wir brauchen aber noch Honig und Wein.«
»Halo kann doch auf die Bäume klettern und Honig suchen«, sagte Luzia.
Halo konnte mit ihren dünnen braunen Beinen an allerlei Orte gelangen, die für die Zentauren unerreichbar waren: Sie konnte auf Bäume und über Felsen klettern, die Klippen hinab und in die hintersten Winkel von Höhlen. Arko half ihr oft, indem er sie hochhob, oder sie kletterte auf seinen Rücken. Und er trug ihre Ausbeute dann nach Hause – Feigen und Brombeeren, Seeigel und Kraken zum Grillen, Oliven von den höchsten Wipfeln der silbern glänzenden Ölbäume oder wilde Honigwaben.
Obwohl es eigentlich nicht erlaubt war, durfte sie auf seinem Rücken reiten. Sie fasste ihn um den Leib, während er mit ihr über das Land galoppierte. Cheiron hatte sie deshalb schon oft ausgeschimpft: »Ein Zentaur trägt nur sich selbst«, sagte er immer. »Er ist nicht dafür geschaffen, andere zu tragen.« Doch kaum drehte er ihnen den Rücken zu, kicherten die beiden nur darüber. Halo konnte auf Arkos Rücken oder seinen Schultern stehen, Sprünge machen und allerlei Kunststücke vollführen.
»Und Feigen suchen wir auch«, sagte Arko bereitwillig. Er und Halo hatten beim Feigensuchen immer jede Menge Spaß.
»Ich mache uns Baklava«, schlug Kyllaros vor.
»Gut, so machen wir das. Aber jetzt erzählst du uns eine Geschichte, mein Schatz«, sagte Chariklo und lehnte sich liebevoll an ihren Gatten. »Erzähl uns vom ersten Kyllaros und von Hylomene.«
Kyllaros schwieg eine Weile.
»Wirklich?«, fragte er schließlich.
»Ja, erzähl, erzähl!«, riefen die Kinder durcheinander, aber dann sah Luzia das ernste Gesicht ihres Vaters und brachte die andern zum Schweigen.
»Sie sind alt genug, um es zu erfahren«, sagte Chariklo. »Erzähl es ihnen.«
»Also gut«, stimmte Kyllaros zu. Er nahm einen Schluck Wein und räusperte sich. Dann setzte er sich aufrecht
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