Haltlos
hätte. Wenn sie nicht noch ihren Dad angefleht hätte, zu Hause zu bleiben. Wären dies die entscheidenden Minuten gewesen, die den beiden das Überleben gesichert hätten? Sie war brav und artig gewesen, wie sich ihre Eltern es wünschten. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ist sie genau deshalb so geworden, wie sie heute ist. Sie ist eine EinserSchülerin geworden, hat die Leitung der Cheerleader übernommen und engagierte sich in so ziemlich jedem sozialen Projekt ihrer High School, das für einen guten Zweck ins Leben gerufen wurde. Sie wollte ihren Eltern noch immer beweisen, dass sie artig und brav ist. Auch wenn es ihr die beiden nicht zurückbringen würde, hoffte sie doch auf ein Wunder und dass ihre Eltern sehen würden, was aus der kleinen verschüchterten sieben Jährigen geworden ist.
Sie genoss das dampfende Wasser auf ihrer Haut und ließ es länger als nötig über den Körper laufen. Als ob dies allein ausreichen würde, um all den Schmerz mit sich zu reißen und durch den Ausguss wegzuspülen. Tessa atmete tief durch bevor sie das Wasser abstellte, die Tür der Duschkabine öffnete und mit einer Hand nach ihrem Handtuch fischte, das sie zuvor auf die Heizung gelegt hatte. Sie wickelte sich in das übergroße weiche Handtuch ein. Gut, bei Tessa wirkten wahrscheinlich alle Handtücher übergroß, war sie doch mit ihren 1,70 m recht zierlich gebaut. Nicht zuletzt war das ein Grund dafür, dass bei jedem, der sie kennenlernte, eine Art Beschützerinstinkt ausgelöst wurde. Sie nahm ihre zurechtgelegten Anziehsachen, zog sie an, um sich für die Schule fertig zu machen. Gott sei Dank war sie noch nie eine von denen gewesen, die sich stundenlang vor dem Spiegel schminkten und frisierten. Sie hatte trotz Pubertät das Glück einer makellosen Haut und auch ihre unzähmbaren Locken waren mittlerer Weile herausgewachsen, so dass sie sich meist ihr glattes Haar scheitelte und schon war sie fertig. Um zur Treppe nach unten zu gelangen, musste sie ihr Zimmer durchqueren. Dort schnappte sie sich ihren Rucksack. Auf dem Weg nach draußen hörte sie schon Ambers drängendes Hupen. Sie liebte ihre beste Freundin Amber Moore, die nebenbei gesagt die Ungeduld in Person war. Sie kannten sich beide schon aus dem Sandkasten. Amber war ihr in all den Jahren immer ein Anker und ein sicherer Zufluchtsort gewesen. Sie war zuverlässig, treu und kämpfte wie eine Löwin, wenn es darum ging ihren Standpunkt zu vertreten. Sie war ein Wirbelwind und redete den ganzen Tag, was der eher zurückhaltenden Tessa oftmals sehr gelegen kam. An der Eingangstür angekommen hielt Tessa jedoch inne und strapazierte dadurch wahrscheinlich gänzlich Ambers Nerven. Tessa hatte fast Butterfly vergessen, heute war wirklich nicht ihr Tag. Butterfly war Ihre Katze, wenn man das so nennen konnte. Vielmehr war sie nicht ihre Katze, sondern eine Streunerin, deren Schicksal es vor ungefähr zwei Jahren ziemlich gut mit ihr meinte, als es sie direkt zu Tessa führte. Tessa fand die kleine Katze an einem der großen Alleenbäume, die die Auffahrt ihres Anwesens zierten. Sie war in einem üblen Zustand: mehrere offene Wunden, abgemagert und von Ungeziefer übersät. Selbst der Tierarzt rechnete ihr keine großen Chancen aus. Nach einiger Überredungskunst erlaubte ihr Miranda die Katze zu versorgen und zu pflegen, aber ins Haus durfte der wandelnde Flohzirkus auf keinen Fall. Also nahm sich Tessa dem mehr toten als lebendigem Geschöpf an und päppelte sie nach mehreren Arztbesuchen im Bootshaus wieder auf. Sie richtete ihr einen Schlafplatz, einen Spielbereich und eine Katzenklappe ein, damit Butterfly sich draußen ihres Geschäfts entledigen konnte. Seitdem erwartet Butterfly Tessa jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit vor der Haustür auf der überdachten Veranda, um sich ihr Fressen und eine kurze Streicheleinheit abzuholen. „Morgen Butterfly, braves Mädchen. Ich habe dich doch nicht vergessen, siehst du. Hier hast du dein Futter.“ Sie stellte eine Schüssel mit Schabefleisch und Ei auf den Boden. Dazu noch eine Schale mit frischer Milch. Beiläufig streichelte sie Butterfly über das zerzauste Fell am Rücken. „War wohl eine aufregende Nacht, wenn ich mir dein Fell so ansehe. Hauptsache, du hast dich nicht mit anderen Katzen angelegt. Da wird wohl mal wieder jemand die Dusche besuchen müssen“, lachend streichelte sie sie noch einmal und Butterfly dankte es ihr mit einem ausgiebigen Schnurren und schmiegte sich an ihre Beine.
„HALLO.
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