Haltlos
faszinierte Victoria ganz besonders. Er war bei den Beweisen in Gedanken immer ein paar Schritte weiter als an der Tafel. Das wurde ihr am Dienstag allerdings fast zum Verhängnis, denn sie hatte sich schnell angewöhnt, nicht mehr von der Tafel, sondern aus dem Geist der Professoren abzuschreiben. Hier fand sie außer dem, was mit Kreide geschrieben wurde, viele hilfreiche Kommentare und oft auch Verweise auf die Übungen.
Sie war eifrig am Schreiben als Falk, der in dieser Stunde neben ihr saß und seine Augen wie immer überall hatte, plötzlich stutzte und flüsterte: „Hey Vici, kannst du Gedanken lesen? Das steht doch gar nicht an der Tafel!“
Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte sie erschrocken, fing sich aber wieder und zischte betont genervt zurück: „Oh Mann, Falk! Das wird es aber gleich und wenn du dich während der Vorlesung mehr mit der Analysis beschäftigen würdest und weniger mit deinen Kommilitonen, dann würdest auch du wissen, dass dies die einzig logische Möglichkeit ist, den Beweis zu Ende zu führen.“
Falk starrte an die Tafel und selbstverständlich schrieb Professor Dieck wenig später genau das an, was Victoria kurz vorher bereits notiert hatte.
Beunruhigt las sie Falks Gedanken: „Oh Mann, Vici ist ja wirklich krass drauf. Naja, wenn ein Genie wie sie so was macht, darf ich mich wohl nicht wundern… Wenn ich nur ihr Talent hätte... dann könnte ich mit Nachhilfe und Klausurtipps bestimmt eine Menge Geld scheffeln. Ich würde ihr einiges zahlen, nur damit sie mich durchs Studium bringt, aber sie macht das immer einfach so… Naja, sie ist eben Vici!“
Erleichtert und belustigt zugleich zog sich Victoria wieder zurück und konzentrierte sich erneut auf die Vorlesung. Sie schwor sich, zukünftig mehr darauf zu achten, was tatsächlich an der Tafel stand, denn sie fand, dass sie schon jetzt anormal genug auf ihre Kommilitonen wirkte und das wollte sie keinesfalls noch verstärken.
Abgesehen von Geometrie beteiligte sie sich auch wieder wie früher an den Vorlesungen und Übungen – das hatte sie in den letzten drei Wochen nicht gemacht; da hatte sie Mühe gehabt, überhaupt zu verstehen, worum es gerade ging.
Es war schon merkwürdig, wenn die eigenen Ausführungen prompt und vor allem unverstellt ehrlich durch die Mitmenschen beurteilt und kommentiert wurden. Es war nicht immer angenehm zu hören, was die Anderen über sie dachten. Die meisten respektierten sie, aber es gab auch welche, die sie für angeberisch, aufgeblasen und besserwisserisch hielten.
Naja, das war eigentlich auch nichts Neues für Victoria. Aber sie erkannte wenigstens eine Person, die sich ihr gegenüber immer besonders freundlich gab, gerade wenn die mal wieder ihr Skript kopieren wollte, aber sie tatsächlich für eine großspurige Streberin hielt. „Na warte, frag du noch mal nach meinem Skript…“ , dachte Victoria empört.
Jaromir bemerkte ihren Ärger und beruhigte sie: „Ach Vici, aufregen lohnt sich nicht… Solche Leute triffst du immer wieder und wenn du genau hinschaust, wirst du feststellen, dass sie nicht nur dir gegenüber unaufrichtig sind, sondern auch sich selbst gegenüber. Einfach ignorieren.“
Sie seufzte. „Das mit dem Gedankenhören ist manchmal ganz schön blöd… ich will doch gar nicht wissen, was die alle über mich denken!“
Er lächelte in Gedanken, als er antwortete: „Tja, ändern kannst du es kaum, es sei denn, du machst dich unsichtbar. Mit der Zeit hilft die viele ungefilterte Kritik allerdings, um sich ein klares Bild darüber zu machen, wie man nach außen wirkt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er feixend hinzu: „Und kann manchmal auch recht amüsant sein – das wirst du bestimmt auch noch feststellen, wenn dich die junge Frau erneut nach deinen Unterlagen fragt. Du brauchst ihr dann nur genau das zu sagen, was sie über dich denkt. Nie wirst du jemanden schneller erröten sehen und verlegen werden.“
Victoria nahm sich vor, genau das auszuprobieren.
Das aktive Mitmachen in den Vorlesungen gab Victoria ein kleines Stück Normalität zurück, auch wenn es durchs Gedankenhören fachlich gesehen bei Weitem nicht mehr so spannend war wie früher. Die Professoren dachten nämlich häufig schon bei ihren Fragen an die Antworten, so dass Victoria immer weniger selbst nachdenken musste.
In Geometrie war jedoch alles anders. Hier KONNTE sie sich nicht beteiligen. Da sie permanent im Geist des Professors war, hatte sie den fachlichen Teil der
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