Haltlos
Jaromir sie ganz allein fahren lassen würde und wegen des Tores konnte er nicht mitkommen. Und zweitens würde sie es dort ohne Frage auf gar keinen Fall ein ganzes Wochenende aushalten! Die Wochenenden mit Jaromir waren ihr mittlerweile heilig und ihm ging es nicht anders.
Also rief Victoria zu Hause an. Das lief allerdings überhaupt nicht gut. Nach wenigen Minuten hatte sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich wollte. Ihre Mutter warf ihr vor, dass sie etwas verheimlichte und war am Ende des Gesprächs richtig gekränkt. Victoria wusste nicht, an welchem Punkt das ganze gekippt war, sie verstand ihre Mutter einfach nicht.
Nach dem Telefonat war sie richtig frustriert. Sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
Wenige Augenblicke später vernahm sie Jaromirs besorgte Gedanken: „Hey Kleines, was ist denn los?“
Sie zeigte ihm das Gespräch mit ihrer Mutter. „Ich habe keine Ahnung, warum das schief gegangen ist. Jetzt ist sie echt sauer, weil sie glaubt, dass ich etwas verheimliche. Und damit hat sie ja sogar recht! Wenn ich neben ihr gestanden hätte, hätte ich wenigstens gesehen, was ihr im Kopf herum geht und hätte was Entsprechendes sagen können, aber so? Wie soll ich denn über die Entfernung bitte ihre Gedanken lesen? Wenn ich in der Vorlesung nicht hören will, was die da alle denken, dann höre ich es natürlich trotzdem! Aber jetzt hätte ich dieses Gedankenlese-Zeugs echt mal brauchen können und da geht es natürlich nicht, weil ich viel zu weit weg bin – so ein Scheiß!“
Jaromir war leicht belustigt über ihren trotzigen Frust. „Ach Victoria, über eine solche Distanz können von allen Drachenrassen tatsächlich nur wir schwarzen Gedankenlesen und Geistesbotschaften senden. Das ist bei der Entfernung allerdings alles andere als einfach und benötigt deutlich mehr astrale Energie. Außerdem hilft es sehr, wenn einem das Gedankenmuster vertraut ist.“
Victoria hatte sich inzwischen etwas beruhigt. „Du ja recht, Jaro. Ist aber trotzdem echt blöde! Und was mache ich jetzt? Ich kenne doch meine Mutter: Eigentlich will sie nur mein Bestes und macht sich Sorgen. Aber Leute in meinem Alter erzählen ihren Eltern eben nicht mehr alles, selbst wenn sie es denn könnten. Ich bin 21! Ich lebe jetzt mein eigenes Leben.“
Er nickte. „Es kann nicht schaden, wenn du ihr das sagst – natürlich freundlich.“
Sie seufzte: „Tja, dann muss ich wohl noch mal zum Hörer greifen.“
Er lächelte. „Mach das, aber lass ihr noch ein paar Minuten Zeit, sich zu beruhigen. Wenn sie dir ähnlich ist, dann kann das nicht schaden.“
Jetzt musste Victoria lachen. „Hey – nicht frech werden, ja!“
Zehn Minuten später startete Victoria einen zweiten Versuch. Sie wusste, dass ihre Mutter die Nummer auf dem Telefon sehen konnte und hörte die Erleichterung in Gieselas Stimme, als sie sich meldete: „Hallo Victoria, ich hätte auch gleich noch mal angerufen. Papa hat schon mit mir geschimpft.“
Victoria stutzte. „Warum das denn?“
Ihre Mutter seufzte: „Dein Vater hat gesagt: «Schatz, Victoria ist jetzt erwachsen und lebt ihr eigenes Leben.» Dann meinte er noch, dass es ganz normal sei, dass du uns nicht mehr jede Kleinigkeit berichtest und dass du sicher viel zu tun hast und einfach keine Zeit, ständig nach Glückstadt zu kommen. Er sagt, dass ich dich in Ruhe studieren lassen soll und dass du dich schon meldest, wenn was ist… Ich soll loslassen und endlich aufhören zu glucken, hat er gesagt!“
Da musste Victoria lachen. „Der gute, alte Papa hat mich voll durchschaut! Gib ihm einen Kuss von mir.“
„Ja, das hat er“, stimmte Giesela zu. Victoria könnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. „Und ich werde das mit dem Dich-in-Ruhe-studieren-lassen versuchen. Aber du bist mir so wichtig, dass ich einfach gern weiß, wie es dir geht.“
„Ach Mama, du bist mir doch auch wichtig und ich würde wirklich gern mal wieder zu euch nach Hause kommen, mit dir in aller Ruhe Kaffee trinken und eine Runde quatschen, aber im Moment muss ich sooo viel lernen – und das war noch nicht mal gelogen, wenn sie die Magie mit einbezog! – in ein paar Wochen haben wir Klausuren und dann gehe ich zur Entspannung auch noch zum Schachclub. Da bleibt einfach keine Zeit.“
Sie konnte nun förmlich hören, wie ihre Mutter sich entspannte und fuhr fort: „Und du weißt ja, dass ich nicht so gern telefoniere. Ich finde einfach, dass man einige Sachen viel besser ganz gemütlich
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