Hannah, Mari
drehte eine Runde durchs Wohnzimmer, schaltete Lampen aus, die sie am Vorabend hatte brennen lassen. Sie zog die Vorhänge auf, stellte eine vergessene Karaffe auf das Regal zurück und hob ein halb volles Whiskyglas vom Boden neben dem Sofa auf. Als sie wieder in die Diele zurückkam, war es leer.
In der Küche setzte Jo den Kessel auf und ließ sich nieder, um zu warten, bis das Wasser kochte. Die Küche war ein großzügiger Raum mit einem Aga-Herd, einem Tisch, der groß genug für acht Personen war, und allen Arten von Kleinkram, den sie über die Jahre angehäuft hatte. Wenn sie ehrlich war, war das Haus viel zu groß für sie, seit ihre Söhne ausgezogen waren. Sie hatte ernsthaft darüber nachgedacht, sich zu verkleinern, hatte sich aber nie genug dafür begeistern können, um ihre Sachen zu packen und umzuziehen. Warum auch? Sie brauchte das Geld nicht und musste nichts überstürzen. Außerdem waren die Nachbarn nett. Sie fühlte sich wohl hier. Es war ein richtiges Zuhause, eine sichere Zuflucht vor der Welt da draußen nach einem langen beschissenen Tag im Büro. Wenn erst einmal die dicke Eichentür hinter ihr zugefallen war, konnte nichts ihr mehr etwas anhaben.
Jo ließ das Frühstück aus. In der Diele schlüpfte sie in vernünftige Pumps, dann griff sie unwillkürlich nach ihrem braunen Wollmantel. Dass er dort nicht hing, ließ den Albtraum der letzten Nacht wieder über sie hereinbrechen. Sie fand ihn über der Sofalehne, wo sie ihn am Abend zuvor hingeworfen hatte, und trug ihn zu dem Kabuff unter der Treppe. Sie zog eine Rolle schwarzer Müllbeutel hervor, riss einen ab und steckte den Mantel sorgfältig hinein. Dann stürzte sie einen letzten Schluck Kaffee hinunter, zog sich das Telefon heran und wählte eine Nummer.
Es musste getan werden …
»Profilerin Jo Soulsby hier. Verbinden Sie mich bitte mit DCI Daniels.«
5
In der Einsatzzentrale herrschte hektische Aktivität. Telefone klingelten, Bilder tanzten auf Monitoren, und der Raum war erfüllt von einem konstanten, summenden Stimmengewirr, als Gormley aus Kate Daniels’ Büro trat. Er fand sie neben einem Tisch, der aussah wie ein Berg aus Papier, wo sie die Ankunft verschiedener wichtiger Dokumente überwachte: Handlungsanweisungen, Vorlagen der Gerichtsmedizin, Protokolle der Haus-zu-Haus-Befragungen, verschiedene Karten von der Gegend. Was nicht mehr auf den Tisch passte, wurde kurzerhand auf dem Boden platziert.
Gormley legte eine Hand ans Ohr, als hielte er ein Telefon. »Jo auf der eins«, sagte er.
Daniels seufzte. »Später. Ich will gleich mit dem Briefing anfangen.«
»Wird aber auch Zeit!« Bright wurde allmählich ungeduldig.
Daniels hatte beinahe vergessen, dass er da war, um zu sehen, wie die Dinge vorankamen und die notwendigen Schritte eingeleitet wurden. Sie wollte so schnell wie möglich das Briefing hinter sich bringen, in der Hoffnung, dann werde er zu seinen eigenen Ermittlungen zurückkehren und sie sich selbst überlassen. Als sie ihre Mitarbeiter um Aufmerksamkeit bat, wurde es still. DC Carmichael legte als Letzte den Hörer auf, einen besorgten Ausdruck im Gesicht. »Boss, hier ist etwas, das Sie wissen sollten …«
»Ja, Lisa«, antwortete Daniels. »Nach dem Film.«
Carmichael sprang auf. Sie schaltete Fernseher und Videorekorder an, machte das Licht aus und gab Daniels die Fernbedienung. Als der Bildschirm zum Leben erwachte, änderte sich die Stimmung im Raum. Aufgeregte Erwartung machte ruhiger Professionalität Platz, als die Mitglieder der Mordkommission die kurze Aufzeichnung ansahen. Daniels beobachtete die Gesichter ihres Teams, das zum ersten Mal den Tatort zu sehen bekam: nicht nur das Blut, sondern auch die erstklassige Wohnung, Stephens’ teure Kleidung, den wertvollen Schmuck und seine unangetastete Brieftasche.
Der Bildschirm wurde schwarz. Carmichael schaltete alles wieder aus und machte Licht. Daniels dankte ihr und zeigte auf das Foto des Opfers an der Tafel.
»Sein Name ist Alan Stephens«, sagte sie. »Was wissen wir noch?«
»Das wird Ihnen jetzt nicht gefallen«, sagte Carmichael nervös.
»Irgendein Problem, Lisa?«, sagte Bright.
»Stephens Ex, die Mutter seiner Kinder, ist jemand, den wir alle persönlich kennen.«
»Hat sie einen Namen?«, drängte Bright.
»Es ist Jo … Soulsby.«
Bright lachte. »Aber ja, versuchen Sie’s noch mal.«
»Ich meine es ernst, Chef.«
Alle Augen richteten sich auf Gormley.
»Ich rufe sie zurück«, sagte er.
6
Jo Soulsby
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