Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Licht gelesen, als ihnen der Panzerkommandant befohlen hatte, nach draußen zu kommen. Das Buch lag jetzt unversehrt neben der verkohlten Hand des Gelehrten, bis ein Wolf den Ledereinband fraß und zwischen den verstreuten Buchseiten Herrn Jakovs Hirn vom Schnee leckte.
Nachts verließen Hannibal und Mischa den Schutz des Hauses nicht mehr. Im Freien war ein ständiges Schnüffeln und Knurren zu hören. Hannibal machte Feuer. Um die Geräusche von draußen zu übertönen, stimmte er ein Lied an und versuchte, Mischa zum Mitsingen zu bringen. Aber sie klammerte sich nur krampfhaft an seinem Mantel fest.
Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,
Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.
Sagt, wer mag das Männlein sein,
Das da steht im Wald allein Mit dem purpurroten Mäntelein ...
Schneeflocken an den Fenstern. In der Ecke einer Scheibe ein dunkler Kreis, frei gerieben von einer Handschuhspitze. Und in dem dunklen Kreis ein hellblaues Auge.
7
Die Tür flog auf, und drei Männer stürmten ins Jagdhaus – Vladis Grutas, Zigmas Milko und Enrikas Dortlich. Hannibal riss zur Verteidigung einen Sauspieß von der Wand. Grutas richtete seine Waffe mit todsicherem Instinkt auf Mischa.
»Lass sofort den Spieß fallen, Kleiner, oder ich erschieße sie. Hast du verstanden?«
Damit hatten sie die Kinder überrumpelt.
Sobald sich die Plünderer im Haus sicher fühlten, ging Dortlich vor die Tür, um dem Fahrer des Halbkettenfahrzeugs winkend Entwarnung zu geben. Als das schlitzäugige Gefährt durch die Nacht auf das Jagdhaus zufuhr, huschten seine Verdunklungsscheinwerfer am Rand der Lichtung über einen Wolf, der etwas Schweres hinter sich her in den Wald zerrte.
Die Eindringlinge scharten sich am Kamin um die Kinder. Aus ihren vom Feuer erwärmten Kleidern stieg der modrige Gestank von Wochen im Feld, aus den Profilen ihrer Stiefel drang ein Hauch von altem getrocknetem Blut. Kazys Porvik, den alle nur Topfgucker nannten, fing ein aus seinen Kleidern krabbelndes Insekt und schnippte ihm mit dem Daumennagel den Kopf weg. Die Männer husteten die Kinder mit ihrem fauligen Raubtieratem an. Sie hatten sich wochenlang von kaum etwas anderem als Aas ernährt, das sie zum Teil von den Ketten ihres Gefährts gekratzt hatten, und litten an Ketose. Angewidert vergrub Mischa das Gesicht in Hannibals Mantel. Als er sie unter dem warmen Kleidungsstück noch fester an sich drückte, konnte er spüren, wie heftig ihr Herz schlug.
Dortlich schnappte sich Mischas Haferbrei, schlang ihn gierig hinunter und strich zum Schluss mit seinen zernarbten Fingern die Schüssel sauber. Petras Kolnas streckte ihm mit flehendem Blick seine Schüssel entgegen, aber Dortlich gab ihm nichts ab. Kolnas war klein und untersetzt, und sobald sein Blick auf Edelmetall fiel, begannen seine Augen zu leuchten. Er streifte Mischa den Armreif vom Handgelenk und steckte ihn ein. Als Hannibal nach seiner Hand zu fassen versuchte, kniff ihn Bronys Grentz seitlich in den Hals, und er verlor jedes Gefühl in seinem Arm.
In der Ferne grollte Geschützfeuer.
Vladis Grutas sagte: »Wenn eine Patrouille auftaucht – egal, zu welcher Seite sie gehört behaupten wir, dass wir hier ein Feldlazarett errichtet haben. Wir haben die Kinder gerettet und bewahren die Sachen ihrer Familie im Laster auf. Holt gleich mal ein rotes Kreuz, und hängt es draußen über die Tür. Los, los, Männer, ein bisschen dalli!«
»Die anderen erfrieren noch, wenn du sie bei dieser Kälte im Laster lässt«, sagte Topfgucker. »Ohne sie hätte uns die Patrouille nie durchgelassen.«
»Bring sie in die Scheune«, sagte Grutas zu Grentz, »und schließ sie dort ein.«
»Warum? Wohin sollten sie denn fliehen?«, wandte Grentz ein. »Und wem sollten sie was erzählen?«
»Sie könnten auf Albanisch etwas über ihr beschissenes Leben erzählen, Grentz. Also, beweg deinen Arsch da raus und tu, was ich sage.«
Grummelnd trollte sich Bronys Grentz in das Schneetreiben hinaus. Er zerrte zwei kleine Gestalten aus dem Halbkettenfahrzeug und trieb sie vor sich her zur Scheune.
8
Die dünne Kette, die Grutas Mischa und Hannibal um den Hals schlang, fühlte sich eiskalt an. Kolnas befestigte schwere Vorhängeschlösser daran und ließ sie zuschnappen. Dann ketteten Grutas und Dortlich die Kinder auf der Galerie am Geländer fest. Dort hatten sie sie immer im Blick, ohne dass sie ihnen im Weg waren. Topfgucker brachte ihnen aus einem der Schlafzimmer einen Nachttopf und eine
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