Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Knochen, an dem noch etwas Fleisch und Sehnen hingen. Hannibal nagte ein wenig davon ab und kaute für Mischa alles vor. Weil der Saft verloren ging, wenn er ihr das Fleisch mit den Fingern reichte, gab er es ihr von Mund zu Mund weiter.
Dann brachten die Männer Hannibal und Mischa ins Jagdhaus zurück und ketteten sie wieder am Geländer der Galerie fest. Den albanischen Jungen ließen sie allein in der Scheune. Mischa glühte vor Fieber, und Hannibal drückte sie unter dem nach kaltem Staub riechenden Teppich fest an sich.
Die Grippe erwischte sie alle. Die Männer lagen, so dicht es ging, um das ersterbende Feuer des Kamins und husteten sich gegenseitig an. Milko fand Kolnas' Kamm und lutschte das Schmalz von ihm ab. Der Kopf des mickrigen Rehbocks lag in der leeren Badewanne, an seinen Knochen befand sich kein Fitzel Fleisch mehr.
Das klare, kalte Wetter blieb in den nächsten Tagen bestehen, Als eines Nachmittags auch der Wind nachließ, kam Hannibal das Husten der Männer plötzlich lauter vor. Vladis Grutas und Milko stapften auf Schneeschuhen ins Freie.
Nach der Dauer eines Fiebertraums hörte Hannibal sie zurückkommen. Lauter Streit und Handgemenge. Durch das Geländer hindurch beobachtete Hannibal, wie Grutas einen blutigen Vogelbalg abnagte und dann den anderen hinwarf die sich wie Hunde darauf stürzten. Grutas’ Gesicht war mit Blut und Federn verschmiert. Er wandte sich den Kindern zu und sagte: »Wir müssen entweder essen oder sterben.«
Das war die letzte bewusste Erinnerung, die Hannibal Lecter an das Jagdhaus hatte.
Aufgrund der Gummiknappheit in der Sowjetunion lief der Panzer auf Stahlrädern, deren heftiges Vibrieren die Sicht im Periskop verschwimmen ließ. Es war ein großer KV-1, der bei eiskaltem Wetter einen Waldweg entlangratterte. Wegen des überstürzten Rückzugs der deutschen Wehrmacht verlagerte sich die Front mit jedem Tag mehrere Kilometer nach Westen. Auf der hinteren Plattform des Panzers, über der Kühlung, fuhren zwei Infanteristen in Winterkampfanzügen mit. Sie hielten nach deutschen Werwölfen Ausschau, fanatischen Nazis, die mit Panzerfäusten zurückblieben und versuchten, sowjetische Panzer zu zerstören.
Plötzlich entdeckten sie, dass sich im Unterholz etwas bewegte. Als der Panzerkommandant die Soldaten losfeuern hörte, drehte er den Geschützturm herum, um auch das Maschinengewehr zum Einsatz bringen zu können. In seinem Okular erschien ein Junge, der aus dem Unterholz kam. Von den Schüssen der Soldaten stoben rings um ihn kleine Schneefontänen in die Höhe. Der Kommandant richtete sich in der Luke auf und befahl seinen Männern, das Feuer einzustellen. Sie hatten bereits mehrere Male versehentlich Kinder erschossen. Der Panzerkommandant war froh, dass sie diesmal nickt, getroffen hatten.
Vor ihnen stand ein abgemagerter, blasser Junge. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem Vorhängeschloss. An ihrem anderen Ende, das er über den Schnee hinter sich herschleifte, befand sich eine leere Schlinge. Als sie den Jungen über der Kühlung auf den Panzer setzten und die Kette abzwickten, blieben Teile seiner Haut an den Kettengliedern hängen. In einem Beutel, den er fest an seine Brust gedrückt hielt, befand sich ein gutes Fernglas. Sie schüttelten den Jungen, stellten ihm Fragen auf Russisch, Polnisch und Litauisch, bis sie merkten, dass er nicht sprechen konnte.
Aus Scham beschlossen die Soldaten, dem Jungen den Feldstecher nicht wegzunehmen. Sie gaben ihm einen halben Apfel zu essen und ließen ihn über dem warmen Lufthauch der Kühlung ins nächste Dorf mitfahren.
9
In der von den Deutschen verlassenen Burg Lecter hatte sich über Nacht eine motorisierte sowjetische Einheit mit einem Jagdpanzer und einem Raketenwerfer einquartiert. Als die Rotarmisten schon vor Tagesanbruch wieder aufbrachen, ließen sie im Hof dunkle Ölflecken zurück, unter denen der Schnee weggeschmolzen war. Der letzte Lkw der Einheit blieb mit laufendem Motor am Burgtor stehen.
Grutas und seine vier überlebenden Gefährten, alle in Sanitäteruniformen, beobachteten den Abzug der Rotarmisten vom Wald aus. Es war vier Jahre her, dass Grutas im Burghof den Koch erschossen hatte, und vierzehn Stunden, dass die Plünderer aus dem brennenden Jagdhaus geflohen waren und ihre Toten zurückgelassen hatten.
In der Ferne ertönte dumpfes Bombenkrachen, und am Horizont stachen die Scheinwerfer der Luftabwehr in den Himmel.
Der letzte Rotarmist kam rückwärts aus der Tür des
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