Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Bettdecke.
Durch die Streben des Geländers beobachtete Hannibal, wie die Männer den Klavierhocker als Brennholz ins Feuer warfen. Er versuchte, Mischas Jackenkragen unter die Kette zu schieben, damit ihre Haut nicht wund scheuerte.
Inzwischen türmte sich draußen der Schnee so hoch an den Wänden des Jagdhauses, dass nur noch durch die oberen Fensterscheiben graues Licht ins Innere drang. Wegen des oben an den Fenstern vorbeipeitschenden Schnees und des heulenden Winds hatte man das Gefühl, in einem großen fahrenden Zug zu sitzen.
Hannibal rollte sich mit Mischa in die Bettdecke und in den Teppich, der auf der Galerie lag. Wenigstens wurde davon Mischas Husten gedämpft. Ihre Stirn brannte heiß an seiner Wange. Er holte ein Stück altes Brot aus seinem Mantel und schob es sich in den Mund. Als es weich war, gab er es ihr zum Essen.
Alle paar Stunden scheuchte Vladis Grutas einen seiner Männer nach draußen, um die Tür und den Weg zum Brunnen frei zu schaufeln. Einmal brachte Topfgucker eine Pfanne mit Speiseresten in die Scheune.
Die Zeit verging quälend langsam in dem eingeschneiten Haus. Topfgucker begann deshalb, seine Buchführung auf den neuesten Stand zu bringen. Er verteilte kleine Beutestücke auf einem Tisch, um sie zu zählen und zu sortieren. Mit krakeliger Handschrift schrieb er jeweils einen Namen oben auf ein Blatt Papier:
Vladis Grutas
Zigmas Milko
Bronys Grentz
Enrikas Dortlich
Petras Kolnas
Und zum Schluss beschriftete er ein Blatt mit seinem eigenen Namen: Kazys Porvik.
Unter den Namen trug er den jeweiligen Beuteanteil des Betreffenden ein – goldene Brillengestelle, Uhren, Ringe, Ohrringe und Goldzähne, die er in einem gestohlenen Silberbecher abmaß.
Grutas und Grentz durchsuchten das Haus unterdessen mit geradezu besessenem Eifer nach Wertgegenständen. Sie zogen Schubladen heraus, leerten ihren Inhalt auf den Boden und rissen die Rückseiten der Kommoden ab.
Nach fünf Tagen klarte es endlich auf. Die Männer legten sich Schneeschuhe an und brachten Hannibal und Mischa zur Scheune. Draußen sah Hannibal aus dem Schornstein der Gesindeschlafkammer, die sich in der Scheune befand, einen dünnen Rauchfaden aufsteigen. Er blickte zu Cesars großem Hufeisen hoch, das als Glücksbringer über das Scheunentor genagelt war, und fragte sich, ob das Pferd noch lebte.
Grutas und Dortlich schoben die Kinder in die Scheune und verriegelten das Tor hinter ihnen. Durch den Spalt zwischen den zwei Torflügeln beobachtete Hannibal, wie sie im Wald verschwanden.
In der Scheune war es sehr kalt. Im Stroh lagen Kinderkleider verteilt. Die Tür zur Gesindeschlafkammer war zu, aber nicht abgeschlossen. Hannibal öffnete sie. Ganz dicht am kleinen Ofen der Schlafkammer saß, in mehrere Decken gewickelt, ein kleiner Junge, der nicht älter als acht Jahre sein konnte. Das Gesicht mit den eingefallenen Augen war dunkelhäutig. Er trug mehrere Schichten bunt zusammengewürfelter Kleidungsstücke, zum Teil auch Mädchensachen. Hannibal stellte sich beschützend vor Mischa, doch der Junge blickte ihn nur ängstlich und erschrocken an.
»Hallo«, sagte Hannibal.
Er probierte es auf Litauisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch, doch der Junge antwortete nicht. Auf seinen Ohren und Fingern waren dicke rote Frostbeulen zu sehen. Im Lauf des langen, kalten Tages schaffte er es schließlich, Hannibal zu erklären, dass er aus Albanien sei und keine andere Sprache könne. Sein Name war Agon. Hannibal gestattete ihm, seine Taschen nach etwas Essbarem abzutasten. Mischa dagegen ließ er ihn nicht anfassen. Als er dem Jungen zu verstehen gab, er und seine Schwester wollten die Hälfte der Decken haben, widersetzte sich Agon nicht.
Kurz vor Sonnenuntergang kehrten die Plünderer zurück. Als Hannibal sie kommen hörte, spähte er durch den Spalt im Scheunentor nach draußen.
An einer mit Quasten versehenen Kordel, die wohl aus einem geplünderten Haus stammte, zogen sie einen halb verhungerten Rehbock hinter sich her, in dessen Seite ein Pfeil steckte.
Milko holte eine Axt.
»Seht zu, dass ihr das ganze Blut auffangt«, sagte Topfgucker mit der Autorität des Kochs. »Es soll möglichst nichts verloren gehen.«
Mit leuchtenden Augen kam Kolnas mit einer Schüssel angerannt. Hannibal hielt Mischa die Ohren zu, damit sie das Geräusch der Axt nicht hörte. Der albanische Junge weinte und sprach ein Gebet.
Später, als die Männer gegessen hatten, brachte Topfgucker den Kindern einen
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