Harka der Sohn des Haeuptlings
von der schweigenden Gegenwart des Geheimnismannes gefangen waren. Aber nun hörte er laute Rufe, frohe Rufe, Lachen, viele Füße, die über den Grasboden liefen. Das waren die Dorfbewohner, die sich auf das große Jagdfest vorbereiteten, die sich auf das neue Wettschießen freuten, auf das gebratene Fleisch, auf Singen und Tanzen. Harka hörte die hellen Stimmen der Jungen Hunde und die kräftigen der Roten Federn, er glaubte Tschetans und Kraushaars Rufe herauszuhören, und er fühlte sich nicht mehr in dieser merkwürdigen und beklemmenden Einsamkeit, er allein gegenüber Tatanka-yotanka, sondern das ganze Dorf war um ihn, die Zeltwände waren nur für die Augen ein Hindernis, nicht für die Ohren, nicht für die gemeinsame Vorfreude auf das Fest. Obgleich Harka den Vater, die Krieger, den weißen Mann, seine Altersgenossen und Gespielen nicht sehen konnte, waren sie doch in seiner Vorstellung sichtbar; alle trugen sie ihre Festkleidung, alle hatten sich schon gebadet, gesalbt, gekämmt, die Haare neu geflochten und Federn in das Stirnband gesteckt, so wie sie jedem zukamen. Die Männer, Burschen und Jungen prüften ihre Bogen und Pfeile, mit denen sie sich an dem Wettschießen beteiligen wollten; die Frauen und Mädchen standen vor den Zelten und würden keinen schlechten Schützen ohne Spott davonlassen.
Harka aber hatte verschlafen, und der Gedanke daran trieb ihm das Blut in die Wangen. Er war nicht einmal aufgewacht, als alle anderen schon das Zelt verließen. Tschetan und Kraushaar würden sich über ihn lustig machen; vielleicht bekam er sogar einen neuen Namen: »Langschläfer«. Das ganze Dorf war schon lebendig. Der große Gast der Zelte, der angesehenste Geheimnismann der Dakotastämme, hatte bereits die Festkleider angelegt. Harka aber stand ungewaschen, ungekämmt, nicht einmal angezogen neben seinem Nachtlager; nur die doppelläufige Büchse hatte er eben noch ergriffen.
Und plötzlich überfiel den Knaben das böse Gewissen. Er hatte sich des Nachts hinausgeschlichen, um zu spähen, was zu sehen ihm verboten war. Er hatte gesehen, wie die Krieger den Geheimnistrunk tranken und wie sie zu Narren wurden. Tatanka-yotanka war ein großer Geheimnismann! – Wenn er ein sehr großer Geheimnismann war, so mußte er auch des Nachts und durch die Zeltwände hindurch wahrgenommen haben, daß Harka ungehorsam gewesen war.
Der Knabe schauerte leicht zusammen. Vielleicht durfte er nun nicht am Jagdfest teilnehmen. Vielleicht geschah noch etwas Schlimmeres, irgend etwas Furchtbares. Es war schon geschehen, daß Menschen, die ein Geheimnis verbotenerweise gesehen hatten, getötet worden waren.
Tatanka-yotanka schwieg noch immer. Wie konnte ein großer Geheimnismann so viel Zeit für einen Knaben aufwenden?
Was war so wichtig, daß es einen Tatanka-yotanka noch immer an derselben Stelle wie gebannt festhielt?
Harka rührte sich nicht. Er rührte nicht einmal mehr die Augenlider. Aber an seinen Schläfen drangen die ersten Schweißtropfen aus den Poren.
Tatanka-yotanka gab ihm einen Wink, einen ganz kurzen, leichten Wink mit einem Finger der rechten Hand, die die um die Schulter geschlagene Lederdecke hielt. Der Wink hieß: Komm!
Der Knabe gehorchte. So wie er war, die Büchse in der Hand, mit wirrem Haar, nackt, ging er neben Tatankayotanka aus dem Zelt und weiter neben ihm her. Er blickte nicht um sich, er wollte niemanden sehen, und diejenigen, die ihn sahen, verstummten, auch dann, wenn sie eben noch laut geschwatzt und gelacht hatten.
Tatanka-yotanka führte den Knaben über den Dorfplatz. Harka erkannte den Weg nur am Boden, an den Pfaden durch das Gras, an dem festgetretenen Sand und Lehm des Platzes, an den Fußspuren.
Der große Geheimnismann öffnete ein Tipi. Es war das Tipi Hawandschitas, vor dem an der Trophäenstange das Mazzawaken des Pani hing. Der Knabe ging mit in dieses Zelt hinein. Er wollte nicht um sich schauen, aber er tat es doch, als wäre er von einem anderen dazu gezwungen.
Auch dieses Zelt war ganz leer. Hawandschita war nicht anwesend.
Tatanka-yotanka bedeutete dem Knaben, sich zu setzen, und Harka folgte dem Wink. Dann gab der Geheimnismann durch Gebärden zu verstehen, daß Harka sitzen bleiben solle, daß er nicht sprechen und sich nicht rühren dürfe.
Der Knabe wurde wie zu einem Bildwerk aus Stein. Tatanka-yotanka wandte sich um und verließ das Zelt.
Harka blieb allein.
Er bewegte sich nicht. Mit untergeschlagenen Beinen saß er nahe der Feuerstelle, in der nur
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