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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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seine Schrotflinte in einen Schirmständer, öffnet eine hölzerne Vitrine, holt zwei weitere Tassen heraus und bittet seinen Besuch, Platz zu nehmen.
    Scones gibt es leider keine, und Staub wischen könnte auch mal wieder jemand, wie Harold findet. Immerhin: keine Katzen. Betty ist mittlerweile auf Ecstasy, sie hat einen gelben Plastikball gefunden, der in ihrem Maul quiekende Geräusche macht. Besinnungslos dreht sie sich um sich selbst, lässt Harold dabei aber keine Sekunde aus den Augen.
    Das fehlte noch.
    »Jetzt werfen Sie in Gottes Namen endlich den verdammten Ball«, schnauzt der alte Mann Harold an, derweil er den Tee in die Tassen füllt.
    Betty ertrinkt fast in Vorfreude und legt ihren Kopf auf Harolds Schoß. Schmatzend walzt sie ihre mächtigen Zähne in den gelben Ball, dessen Quieken nunmehr Todesschreien ähnelt. Melvin und der alte Mann starren Harold an. Betty auch. Na toll. Langsames Herantasten, keine ruckartigen Bewegungen, absolute Konzentration, doch, oh Überraschung, Betty macht überhaupt keine Anstalten, ihre Beute zu verteidigen, ganz im Gegenteil, bereitwillig lässt sie ab von ihrem Schatz. Glibbernder Speichel tropft an Harolds Hand herunter, er wirft den Ball in Richtung Flur. Es ist getan, wie wunderbar. Betty braucht keine zwei Sekunden, um ihn wohlig knurrend wieder zurückzubringen.
    »Zitrone?«
    »Nein, danke.«
    »Also, was führt euch zu mir?«
    »Die Suche nach einer vermissten Person. Dass die Spuren hierhin führen, ist durchaus überraschend. Warum leben Sie in Irland?«
    »Irgendjemand muss ja die letzte Bastion des Empires verteidigen. Nicht immer einfach.«
    »Noch dazu in einer katholischen ...«
    »Ha, die Katholiken. Hier zeugen selbst die Bischöfe Kinder, und sobald eine Marienstatue anfängt zu heulen, ist hier der Teufel los. Torfstecher.«
    Harold wirft den Ball.
    Der alte Mann kommt Melvin irgendwie bekannt vor. Die schwachen Augen, die asymmetrische Oberlippe, die leicht nasale Stimme, da gibt es Zusammenhänge, eindeutig. Melvin hat das unbestimmte Gefühl, hier richtig zu sein. Kein Grund also, das plüschige Geplausche unnötig in die Länge zu ziehen. Er nippt an seinem Tee, der, heißer als erwartet, kleine Brandbläschen im Gaumen hinterlässt.
    »Haben Sie einen Sohn?«
    »Warum?«, fragt der alte Mann und reibt nachdenklich an seinen grauen Bartstoppeln.
    »Es könnte sein, dass Sie mein Großvater sind.«
    »Seid ihr Erbschleicher?«
    Harold wirft den Ball.
    »Sagt Ihnen der Name Denise Bentham etwas?«
    Für einen kurzen Moment wirkt der alte Mann überrascht, er lehnt sich zurück, öffnet ein silbernes Etui, holt eine Zigarette heraus und zündet sie mit einem Sturmfeuerzeug an. Es riecht nach Benzin.
    »Mein Sohn sprach eine ganze Zeit lang von einer Frau mit diesem Namen. Auch von einem Kind, aber das hat sie meines Wissens abgetrieben.«
    »Hat sie nicht.« Melvins Puls spielt Autorennen. Ist es möglich? Hat er ihn gefunden? Ist sein Vater hier oder holt er gerade Kuchen? Wie soll er ihn anreden? Vater, Dad, Mr. Newsom? Wird er sich freuen oder gar weinend zusammenbrechen? Ist bestimmt nicht einfach, plötzlich einen erwachsenen Sohn zu haben.
    Harold wirft den Ball.
    »Ist er hier?«
    »Nein.«
    »Holt er Kuchen?«
    »Nein.«
    »Wo kann ich ihn finden?«
    Der alte Mann zieht quälend lange an seiner Zigarette, die Glut funkelt in biestigem Orange, er atmet hellgraue Rauchschwaden aus und sein Gesicht verliert an Schärfe und Kontur. Er schaut aus dem Fenster, die Wolken sind jetzt Schafe.
    »Er ist tot.«
    Harold wirft den Ball.
    Melvin schluckt. Bunte Punkte tanzen vor seinen Augen, als habe er zu lange in die Sonne geguckt. Tot? Warum ist er denn tot? Hätte er nicht warten können? Das kann doch jetzt nicht wahr sein.
    »Wieso?«, fragt Melvin, und seine Stimme klingt zum ersten Mal seit Anbeginn der Reise ein wenig unsicher, fast hilflos.
    »Klassisch. Whiskey. Auto. Baum.«
    »Wann?«
    »Vor drei Monaten.«
    »Gibt es ... gibt es ein Grab?«
    »Ihr könnt es nicht verfehlen, den Hang runter bis zum Ufer«, sagt der alte Mann und stiert in eine ferne Welt. »Dort habe ich seine Asche ins Meer gestreut.«
    Harold wirft den Ball.
    46
    Das kleine Ufer ist in Klippen gefurcht, die in moosigen Flecken und brüchiger Anmut tapfer den Gezeiten trotzen. Der feuchte Sand hinterlässt Spuren, die nicht lange bleiben werden. Es sei denn, die Zeit stünde fortan still, für immer, mindestens aber für ewig. Die Wolken sind wieder schwerer geworden.

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