Harry Potter - Gesamtausgabe
ist. Er ist jetzt dort.«
»Harry!«, sagte Ron zornig. »Wie lange weißt du das schon – wieso haben wir unsere Zeit verschwendet? Warum hast du zuerst mit Griphook gesprochen? Wir hätten losgehen können – wir könnten immer noch gehen –«
»Nein«, sagte Harry und sank im Gras auf die Knie. »Hermine hat Recht. Dumbledore wollte nicht, dass ich ihn besitze. Er wollte nicht, dass ich ihn an mich nehme. Er wollte, dass ich die Horkruxe jage.«
»Der unbesiegbare Zauberstab, Harry!«, stöhnte Ron.
»Ich soll nicht … ich soll die Horkruxe finden …«
Und jetzt war alles kühl und dunkel: Die Sonne war noch kaum am Horizont zu sehen, als er neben Snape dahinglitt, über das Gelände in Richtung See.
»Ich werde in Kürze im Schloss zu dir stoßen«, sagte er mit seiner hohen, kalten Stimme. »Lass mich jetzt allein.«
Snape verbeugte sich und ging wieder den Pfad hinauf, und sein schwarzer Umhang bauschte sich hinter ihm. Harry schritt langsam, er wartete, bis Snapes Gestalt verschwunden war. Es wäre ungut, wenn Snape oder auch irgendjemand sonst sehen würde, wohin er ging. Aber in den Fenstern des Schlosses war kein Licht und er konnte sich verstecken … und einen Moment später hatte er einen Desillusionierungszauber über sich selbst gelegt, der ihn sogar vor seinen eigenen Augen verbarg.
Und er setzte seinen Weg fort, am Ufer des Sees entlang, und betrachtete die Umrisse des geliebten Schlosses, seines ersten Königreichs, seines wahren Erbes …
Und hier stand es, am See, gespiegelt in dem dunklen Wasser. Das weiße Marmorgrabmal, ein unnötiger Schandfleck in der vertrauten Landschaft. Wieder spürte er, wie jene gemessene Euphorie ihn durchflutete, jenes berauschende Gefühl der Entschlossenheit, zu zerstören. Er hob seinen alten Zauberstab aus Eibenholz empor: Wie passend, dass dies die letzte große Tat des Stabs sein würde.
Das Grabmal riss von oben bis unten auf. Die in ein Leichentuch gehüllte Gestalt war so lang und dünn, wie sie es zu Lebzeiten gewesen war. Abermals hob er den Zauberstab.
Das Tuch fiel ab. Das Gesicht war durchscheinend, fahl, eingesunken, doch fast vollkommen erhalten. Sie hatten seine Brille auf der Hakennase gelassen: Er verspürte höhnisches Vergnügen. Dumbledores Hände waren auf seiner Brust gefaltet, und da lag er, unter den Fingern, mit ihm begraben.
Hatte der alte Narr sich eingebildet, dass Marmor oder der Tod den Zauberstab schützen würden? Hatte er gedacht, dass der Dunkle Lord Angst davor hätte, sein Grab zu schänden? Die spinnenartige Hand stieß hinab und zog den Zauberstab aus Dumbledores Griff, und als er ihn nahm, sprühte ein Funkenschauer aus seiner Spitze und warf funkelndes Licht über den Leichnam seines letzten Besitzers, bereit, endlich einem neuen Herrn zu dienen.
Shell Cottage
Bills und Fleurs Haus, in dessen weiß getünchte Mauern Muschelschalen eingelassen waren, stand allein auf einer Klippe über dem Meer. Es war ein einsamer und schöner Ort. Wo immer auch Harry in dem kleinen Haus oder seinem Garten hinkam, konnte er das stetige Wogen der See hören wie die Atemzüge eines großen schlummernden Tieres. In den nächsten Tagen verbrachte er viel Zeit damit, sich Ausreden einfallen zu lassen, um dem überfüllten Haus zu entfliehen, denn er sehnte sich nach dem Blick von der Klippe über den freien Himmel und das weite, einsame Meer, und nach dem Gefühl von kaltem, salzigem Wind auf seinem Gesicht.
Seine ungeheure Entscheidung, Voldemort allein nach dem Zauberstab jagen zu lassen, machte Harry immer noch Angst. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals beschlossen hätte, nicht zu handeln. Er steckte voller Zweifel, und diese Zweifel brachte Ron unweigerlich zur Sprache, wann immer sie zusammen waren.
»Und wenn Dumbledore wollte, dass wir das Symbol rechtzeitig entschlüsseln, um an den Zauberstab zu kommen?«, »Vielleicht hat man sich die Heiligtümer ›verdient‹, wenn man das Symbol entschlüsselt?«, »Harry, wenn das wirklich der Elderstab ist, wie zum Teufel sollen wir dann Du-weißt-schon-wen erledigen?«
Harry wusste keine Antworten: Es gab Momente, in denen er sich fragte, ob es heller Wahnsinn gewesen war, nicht den Versuch zu unternehmen, Voldemort daran zu hindern, das Grabmal aufzubrechen. Er war sich nicht einmal so recht im Klaren, warum er sich dagegen entschieden hatte: Jedes Mal, wenn er versuchte, seine eigenen Argumente nachzuvollziehen, die zu dieser Entscheidung geführt hatten, kamen
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