Harry Potter und die Kammer des Schreckens
Professor Binns war der einzige Geist, den sie als Lehrer hatten, und dass er einmal das Klassenzimmer durch die Tafel betreten hatte, war das Aufregendste, was je in seinem Unterricht passiert war. Er war uralt und schrumplig, und viele Leute sagten, er habe nicht bemerkt, dass er tot sei. Er war eines Tages einfach aufgestanden, um zum Unterricht zu gehen, und hatte seinen Körper in einem Sessel vor dem Kamin im Lehrerzimmer zurückgelassen; sein Tagesablauf hatte sich seither nicht im Mindesten geändert.
Heute war es noch langweiliger als sonst. Professor Binns öffnete seine Unterlagen und begann dumpf dröhnend wie ein Staubsauger zu lesen, bis fast alle in der Klasse in einen Wachschlaf verfallen waren, nur gelegentlich aufmerkend, um einen Namen oder ein Datum zu notieren. Er hatte schon eine halbe Stunde geredet, als etwas geschah, was noch nie zuvor geschehen war. Hermine hob die Hand.
Professor Binns, inmitten eines sterbenslangweiligen Vortrags über die Internationale Zaubererversammlung von 1289, schaute verdutzt auf.
»Miss – ähm –«
»Granger, Professor. Ich frage mich, ob Sie uns nicht etwas über die Kammer des Schreckens erzählen könnten«, sagte Hermine mit heller Stimme.
Dean Thomas, der mit herabhängendem Unterkiefer dagesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte, schreckte aus seiner Trance; Lavender Brown riss den Kopf von ihren Armen und Nevilles Ellbogen rutschte vom Tisch.
Professor Binns blinzelte.
»Mein Fach ist Geschichte der Zauberei«, sagte er mit seiner trockenen, pfeifenden Stimme. »Ich habe es mit Tatsachen zu tun, Miss Granger, nicht mit Mythen und Legenden.« Er räusperte sich, was sich anhörte wie zerbrechende Kreide, und fuhr fort: »Im September jenes Jahres hat ein Unterausschuss zyprischer Zauberer –«
Er verhaspelte sich und brach ab. Wieder ruderte Hermines Hand durch die Luft.
»Miss Grant?«
»Bitte, Sir, gehen Legenden nicht immer auf Tatsachen zurück?«
Professor Binns sah sie derart irritiert an, dass Harry sich sicher war, dass noch kein Schüler ihn je zuvor unterbrochen hatte, weder zu seinen Lebzeiten noch danach.
»Nun«, sagte Professor Binns langsam, »ja, so könnte man argumentieren, denke ich.« Er spähte zu Hermine hinüber, als ob er noch nie zuvor eine leibhaftige Schülerin gesehen hätte. »Allerdings ist die Legende, von der Sie sprechen, eine derart reißerische, geradezu lächerliche Geschichte –«
Doch nun hing die ganze Klasse an Professor Binns’ Lippen. Er sah sie mit verhangenem Blick an und aller Augen waren auf ihn gerichtet. Harry konnte sehen, dass derart ungewöhnliches Interesse Binns völlig aus dem Häuschen brachte.
»Oh, wie Sie wünschen«, sagte er langsam. »Lassen Sie mich überlegen … die Kammer des Schreckens …
Sie alle wissen natürlich, dass Hogwarts vor über tausend Jahren gegründet wurde – das genaue Datum ist nicht bekannt –, und zwar von den vier größten Hexen und Zauberern des damaligen Zeitalters. Die vier Häuser der Schule sind nach ihnen benannt: Godric Gryffindor, Helga Hufflepuff, Rowena Ravenclaw und Salazar Slytherin. Sie haben dieses Schloss gemeinsam erbaut, fern von neugierigen Muggelaugen, denn es war ein Zeitalter, als das einfache Volk die Zauberei fürchtete und Hexen und Zauberer unter grausamer Verfolgung zu leiden hatten.«
Er hielt inne, schaute sich mit trüben Augen im Raum um und fuhr dann fort.
»Ein paar Jahre lang arbeiteten die Zauberer einträchtig zusammen. Sie suchten sich junge Leute, die magische Kräfte zeigten, und brachten sie auf das Schloss, um sie auszubilden. Doch dann kam es zum Streit. Zwischen Slytherin und den andern tat sich eine wachsende Kluft auf. Slytherin wollte die Schüler, die in Hogwarts aufgenommen wurden, strenger auslesen . Er glaubte, das Studium der Zauberei müsse den durch und durch magischen Familien vorbehalten sein. Schüler mit Muggeleltern wollte er nicht aufnehmen, denn sie seien nicht vertrauenswürdig. Nach einiger Zeit kam es darüber zu einem heftigen Streit zwischen Slytherin und Gryffindor, und Slytherin verließ die Schule.«
Wieder machte Professor Binns eine Pause, schürzte die Lippen und sah dabei aus wie eine schrumplige alte Schildkröte.
»Zuverlässige historische Quellen sagen uns jedenfalls so viel«, sagte er. »Doch diese klaren Tatsachen werden überwuchert durch die phantasiereiche Legende von der Kammer des Schreckens. Dieser zufolge hat Slytherin eine Geheimkammer in das Schloss
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