Haus der Jugend (German Edition)
schwarz-weiß, die Anzüge und Mäntel grau, die Hüte oft schwarz, die Hemden weiß. Das Wirtschaftswunder hatte uns sechs Jahre nach Kriegsende Zuversicht gegeben, die Zeit der Entbehrungen den Willen, jeden kleinen Wohlstand zu erhalten.
Die Eltern konservierten das Grau, wir wollten Farbe. Wir wollten buntes Licht in Tanzlokalen, schnelle Rhythmen, zu denen wir uns bewegen konnten, Rock ‘n’ Roll.
Wir feierten die Rebellion des Optimismus, wollten teilhaben an der heilen Welt und unsere Energie in den Spaß am Leben stecken, den die Vorschriften uns vermiesten.
Natürlich blühten zwischen den Trümmern Blumen, das Gras war so grün wie der Himmel blau, die Sonne so gelb wie der Raps. Die Emailleschilder warben in Pastelltönen, die Designer kreierten bonbonfarbene Schalen und Toaster. Und doch erschien mir die Welt schwarz-weiß wie ihre deutliche Aufteilung in gut und böse, in Anstand und Verdorbenheit.
Darius stand am Gärtnerplatz, sah mal in diese, mal in jene Richtung, schnippte lässig die Asche seiner Zigarette fort und schien nicht einmal auf etwas zu warten.
Sein Haar war kurz geschnitten, doch die Länge reichte für eine kleine Tolle über der Stirn. Der oberste Knopf seines Hemds war geöffnet und der Knoten seiner Krawatte hing unterhalb des zweiten Knopfs.
Ich kam gerade aus dem Theater, an dem ich eine Praktikumstelle hatte. Das hieß, ich musste alle Kreativität vergessen, auf das, was ich studieren wollte verzichten und stattdessen die Arbeiten ausführen, für die sich die Künstler zu schade waren. Die Handwerker nahmen mich nicht ernst, weil ich keine Ausbildung hatte, für sie war ich ein lebens- und praxisfremder Student, der Bühnenbildner nahm mich nicht erst, weil ich das Studium noch nicht angetreten hatte. Dazu brauchte ich das Praktikum. Trotzdem brachte die Arbeit Spaß. Wir arbeiteten gerade an Entwürfen für »Fra Diavolo«, der komischen Oper von Auber. Und ich genoss es, als schweigender Beobachter dabeizusitzen, wenn sich der Regisseur und mein Chef über ihre Vorstellungen unterhielten, und beratschlagten, von welchem Seitenaufgang der Wagen von Lord Kookburn und Lady Pamela vorfahren sollte. Wir entwarfen die Bühne in Zeichnungen und bauten danach Miniaturmodelle. Ich klebte mit Begeisterung kleine Pappbäume in Gebirgslandschaften und bastelte voller Enthusiasmus winzige Möbel für Zerlines Schlafgemach.
Als ich über den Gärtnerplatz ging und Darius zum ersten Mal sah, wiesen meine Finger Reste von Klebstoff auf, die durch den Versuch, sie zu entfernen, nur grau geworden waren. Am Handballen sah man noch die Spuren von Wasserfarben. Wir hatten konzentriert gearbeitet, ich war müde und hatte noch einen halbstündigen Fußweg vor mir, um mein möbliertes Zimmer in der Ohlmüllerstraße zu erreichen.
Darius hatte die Zigarette inzwischen ausgetreten und sah in meine Richtung. Und da ich den Blick nicht von ihm lassen konnte, fühlte er sich wohl angesprochen und kam auf mich zu.
Zu seinem weißen Hemd und der nachlässig gebundenen Krawatte trug er Jeans und eine Lederjacke. Eines von beiden hätte gereicht, mich vor Neid erblassen zu lassen. Jeans – ein Streifen Blau in der tristen Realität. Unbezahlbarer Gegenstand meiner studentischen Sehnsucht, wenn ich abends im Hinterzimmer des Vereins für Humanitäre Lebensgestaltung beim Tanzfest war. Jeans, so eng geschnitten, dass ich mir die Größe von Darius’ Penis vorstellen konnte.
Die Lederjacke gab ihm einen stolzen Ausdruck von Kraft. Er trug sie halb geöffnet, während ich die Knöpfe meines abgewetzten Dufflecoats bis zum Kragen geschlossen hatte. Darüber schützte ich mich noch mit einem dicken Wollschal vor dem Winter. Es war ein milder Wintertag, so um die sieben Grad warm, aber mich fröstelte.
Darius lächelte, zog, als er vor mir stand, eine weitere Zigarette aus seiner Schachtel und bot auch mir eine an.
»Danke«, sagte ich und bemühte mich, ihm nicht in die Augen zu sehen. Kurz blickte ich unsicher zum Theater zurück und fragte mich, wer dort wohl gerade am Fenster stünde und abfällige Bemerkungen machte. »Lass uns unauffällig ein paar Ecken weitergehen«, zischte ich, zog meinen rechten Handschuh aus, damit ich die Zigarette besser halten konnte, und beugte mich zu dem Benzinfeuerzeug, das Darius mir hinhielt.
Ich wusste, er würde mir folgen, als ich, ohne noch einmal aufzublicken, mit der brennenden Zigarette in der Hand die Klenzestraße Richtung Fraunhoferstraße
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