Das Sonnenblumenfeld
Kurz zuvor
»Mammà, ich geh noch kurz zu Pina.«
Da war es Viertel vor fünf. Die Sonne brannte vom Himmel. Eine Hitze wie im Glutofen.
»Also, ich geh dann.«
Zum ersten Mal log Caterina ihre Mutter an. Aber es war eine lässliche Lüge, die nicht schwer auf dem Gewissen lastete und sie zur Frau machte.
»Von mir aus. Aber denk dran, um sechs fangen die Pizzicari an«, sagte die Mutter.
»Bis dann, wir sehen uns auf der Piazza, Mammà.«
Sie schnappte sich ihr Rad und fuhr los, zu Pina. Oder nicht? Dort, wo die Olivenbäume ihrer Mutter den Blick verstellten, folgte sie nicht mehr der Straße, die zum Haus ihrer Cousine führte, sondern bog in die andere Richtung ab.
Auf die Landstraße.
In Richtung der Brücke.
Caterina war auf dem Weg zum Sonnenblumenfeld.
Drei Kilometer war es von zu Hause entfernt. Aber vorher musste man sechshundert Meter über eine Brücke fahren, die schmal war wie die Zunge einer Schlange und über die ein Lastwagen nach dem anderen heizte. Gerade jetzt, während der Tomatenernte. Und ab und zu geschah es, dass ein Laster ei
nen armen Teufel erwischte. Ein einziger Schlenker, ein heißer Hauch des Scirocco oder ein Glas Primitivo zu viel.
Um die Brücke zu vermeiden, hätte man über den Berg, den Muntagnone, fahren müssen, fast dreißig Kilometer Serpentinen. Oder am Cuzzolara-Teich entlang, der im Sommer kaum Wasser hatte, eine gute halbe Stunde, in der man sich die Schuhe im Schlamm versaute und die Mücken einen bei lebendigem Leib fraßen. Also die Brücke, und Caterina radelte, panisch vor Angst, während die Laster haarscharf an ihr vorbeischossen und ihre Haare im Wind wehten wie ein Schleier.
Als sie klein war, hatte sie im Sonnenblumenfeld Verstecken und Räuber und Gendarm gespielt. Aber das Lieblingsspiel von Caterina und ihrer Cousine war Sognafuturo gewesen, Zukunftstraum.
Wenn sie Sognafuturo spielten, dann heiratete Pina einen König, denn der herrscht über alle, und deshalb durfte sie tun und lassen, was sie wollte, und keiner konnte sie daran hindern. Der König war ein schöner Mann, er strahlte wie die Sonne. So schön war er, dass er jeden Tag auf ein anderes Fest eingeladen wurde, und wenn Pina am Arm des Königs heranschwebte, wurden alle Frauen schwarz vor Neid.
Caterina konnte sich nicht entscheiden, wen sie sich erträumen sollte. Einmal war es ein Seemann, der mit ihr auf seinem Schiff davonsegelte, ein andermal
ein Ritter, der den Seiten eines Romans entstieg, um sie gegen alle Gefahren zu verteidigen, ein andermal ein Maler, der mit dem Pinsel eine ganze Welt nur für sie erschuf.
Noch ein Lastwagen raste an ihr vorbei, ein besonders langer mit Anhänger. Der Windstoß überraschte Caterina, das Fahrrad schlingerte, um ein Haar wäre sie gestürzt.
Die sechshundert Meter über die Brücke waren für alle, die sie mit dem Fahrrad zurücklegen mussten, ein sturmtosendes Meer. Der Atem stockte einem vor Angst, unter einen Lastwagen zu geraten.
Caetano Corona, der Bürgermeister, versprach seit sechs Jahren einen Fahrradweg. Er versprach es, und währenddessen erwischte es immer mal wieder jemanden. Zuletzt Tonino, der im vergangenen Monat bei Sonnenuntergang gestürzt war. Die ganze Nacht waren sie über ihn hinweggewalzt. Wie über eine Hure. Zum Schluss war er eins mit dem Straßenbelag. Samt Hut und Fahrrad.
»Tonino war betrunken«, erzählte man im Dorf.
Aber dass er betrunken war, weil er neun Monate zuvor seine Arbeit verloren hatte und keine neue fand, erzählte niemand.
Noch ein Lastwagen, der schwarzen Rauch spuckte wie ein Drache und Caterina ins Schleudern brachte.
Um sich Mut zu machen, dachte sie an Lorenzo, den Enkel des Schusters. Sie dachte an den Kuss. Am ver
gangenen Sonntag war es passiert, zum ersten Mal hatte sie jemanden auf den Mund geküsst. Ein Kuss, leicht wie ein Seufzer, der ihr Herz so heftig schlagen ließ, dass sie fürchtete, man könnte es bis ins Dorf hören.
Sie dachte an Lorenzo und radelte schneller.
So schnell sie konnte.
Zum Sonnenblumenfeld.
Während Caterina radelte
Lorenzo lag ausgestreckt mitten im Sonnenblumenfeld. Seit einer Stunde lag er so da. Wie ein Traum wehte ihm Caterinas Kuss durch den Kopf.
»Mè, Lorenzo, fang mich, wenn du kannst!«, hatte sie gerufen.
Und war mit ihrer pechschwarzen Mähne über den Strand davongelaufen. Gelacht hatte sie, und ihre Zähne hatten weiß geglänzt, so blendend weiß wie die Häuser in der Glut der Sonne.
Als er sie eingefangen hatte, tanzte
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