Haus der Jugend (German Edition)
er mich schon dort verlassen hatte. Wenn ich Heinrich von ihm erzählt habe, was ihn jedes Mal gedemütigt hat, dann nie von diesen merkwürdigen Ereignissen in der Hütte, nie von diesem langen Marsch zurück zu mir. Sie schienen wie mit unsichtbarer Tinte in mein Leben geschrieben.
Und jetzt, als Darius und ich an meinem Esstisch sitzen, Wein zu den Ravioli trinken und schweigen, scheint die Tinte wieder durch, als hielte jemand das Blatt Papier über eine Kerze.
Ich sage kein Wort davon, auch wenn Darius die Frage nach dem Warum laut in meinem Gedanken hallen hören muss. Er hat schon viel leisere Gedanken gehört. Aber er lächelt versonnen und ignoriert die Frage und die Erinnerungen, die durch meinen Kopf gehen. Er lächelt, als hörte er die versteckten Vorwürfe nicht.
»Das Essen war großartig«, sagt er, steht auf und trägt das Geschirr in die Küche. Ich bleibe sitzen, höre die Tür des Geschirrspülers, einen laufenden Wasserhahn und klappernde Teller. Darius sagt nichts, als er wieder an den Tisch kommt, den Rest abdeckt und wegstellt. Beim zweiten Mal bringt er eine neue Flasche Wein mit, entkorkt sie und schenkt nach. »Hast du einen Block mit Rechenkästchen?«
Ich nicke. Auch, wenn er fragt, Darius scheint sich zuhause zu fühlen. Er geht die Treppe hinauf in mein Arbeitszimmer und kommt nach kurzer Zeit mit einem Block zurück. »Lass uns ›Schiffe versenken‹ spielen«, sagt er und grinst so breit wie die Kuh aus der Joghurtwerbung. Darius in doppelter Kleidung fällt mir ein, verpackt wie eine Gänsestopfleber, der auf mir liegt und mir den besten Orgasmus meines Lebens bereitet. Fünfzig vergangene Jahre, fünfzig Jahre Falten, die sich über mich gelegt haben und derer ich mich schäme, selbst wenn ich sie als Zeichen von Erfahrungen betrachte. Selbst, wenn jede Falte für eine Geschichte im Leben steht, sie macht mich zu einem anderen Menschen als den, der sich damals in jener Hütte genussvoll im Spiel entkleidet hat.
»Keine Angst, du musst dich nicht ausziehen«, sagt Darius. »Wer ein Schiff versenkt, darf dem anderen eine Frage stellen.«
»Kennst du nicht alle meine Fragen?« Kurz erstarre ich, denn Darius kommt mir so nah, als wolle er sich auf meinen Schoß setzen. Er geht vorbei, setzt sich auf einen Stuhl und sieht mich an. »Ich kenne auch deinen Körper und du schämst dich trotzdem für ihn. Wie für die Fragen. Wenn ich sie nur aus deinen Gedanken höre, kann ich sie unmöglich sortieren und noch unmöglicher beantworten.«
Um seinem Blick auszuweichen, hebe ich mein Weinglas. Mit ihm in der Hand kann ich Darius ansehen und sagen: »In Ordnung.«
Wir malen die Felder aufs Papier, ich lege mein Blatt umgekehrt auf den Tisch und hole aus der Küche geröstete Erdnüsse, bevor mein Freund zu raten anfängt.
»C4.«
»Treffer.«
»D4.«
»Treffer.«
»B4.«
»Versenkt.«
Warum habe ich nur eben schon die Erdnüsse geholt. Jetzt könnte ich mir damit einen Aufschub gewähren. Schon vor der Frage habe ich Angst. Darius legt den Finger an die Stirn, als müsste er nachdenken. Weiß er nicht alles über mich? Mit seinen Fragen kann er doch höchstens testen, wie ehrlich ich bin. Und jedes Geflunker wird er bemerken, aber für sich behalten. Er wäre nie so unhöflich, mich damit zu konfrontieren.
»Hast oder hattest du manchmal den Wunsch, mich zu töten?« Er könnte wenigstens lächeln. Sonst muss ich doch annehmen, er meint die Frage ernst. Hatte ich den Wunsch jemals? Vielleicht auf dem langen Weg von Oy nach München, vielleicht in der Nacht, in der ich mich unter den Bänken der Isar vor Wind und Kälte geschützt habe? Hass aus Verzweiflung über verschmähte Liebe?
»Nein«, antworte ich sicher. »Zumindest erinnere ich mich nicht.«
Jetzt lächelt Darius. Ist es ein wissendes oder ein zufriedenes Lächeln? Welche Gedanken stecken dahinter? Manchmal wünschte ich mir seine Fähigkeiten, so sehr sie mich auch erschrecken.
»Ich habe noch ein paar Schiffe«, sagt er zu diesem Lächeln.
»Du bist weiter dran.«
»C7.«
»Daneben. B2.«
»Daneben. G8.«
»Daneben.« Bevor ich weiter rate, trinke ich einen Schluck Wein. Ist das Spiel überhaupt fair? Oder weiß Darius, wo ich meine Kreuze mache? Dann hat er mich damals reingelegt. Dann hat er mich eben reingelegt, als er daneben tippte. »Ebenfalls G8.«
»Treffer.«
»G7.«
»Treffer.«
»G6.«
»Versenkt.«
»Weißt du, wo meine Kästchen sind?«
»Ja.«
Ich sollte meine Gedanken in Zaum halten.
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