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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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1. Kapitel
     
    CARASKAND
     
     
     
    Mein Herz verkümmert, während mein Verstand gedeiht. Gründe – stets geht es mir nur um Gründe. Manchmal denke ich, jedes geschriebene Wort verdankt sich der Scham.
     
    Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
     
     
     
    ENATHPANEAH, VORFRÜHLING 4112
     
    Einst war die Zukunft für Achamian so etwas wie eine Gewohnheit gewesen – etwas, das zum anstrengenden Rhythmus seiner Tage gehörte, als er sich noch im Schatten seines Vaters abmühte. Morgens hatten seine Finger geschmerzt, nachmittags hatte sein Rücken gebrannt. Die Fische hatten im Sonnenlicht silbern gefunkelt. Aus morgen war heute, aus heute gestern geworden, als wäre die Zeit kaum mehr als Kies in einem Fass und als beschiene die Sonne das Immergleiche. Er erwartete nur, was er schon erduldet hatte, und bereitete sich nur auf Dinge vor, die bereits geschehen waren. Seine Vergangenheit hatte seine Zukunft versklavt. Nur die Größe seiner Hände schien sich damals zu verändern.
    Inzwischen dagegen…
    Atemlos ging Achamian durch den Dachgarten von Proyas’ Anwesen. Der Himmel war klar. Die Sternbilder funkelten am schwarzen Firmament: Uroris ging im Osten auf, während der Dreschflegel im Westen unterging. Die Höhen, die den Pott umgaben, begrenzten den Horizont mit einem Meer bläulicher Bauten, aus denen da und dort Fackellicht drang. Pfiffe und Rufe schallten von der Straße herauf und klangen schwermütig und freudetrunken zugleich.
    Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatten die Männer des Stoßzahns über die Heiden triumphiert. Caraskand war wieder eine große Stadt der Inrithi.
    Achamian schob sich durch eine Wacholderhecke und machte sich dabei das Gewand schmutzig. Der Garten lag überwiegend brach. Sein Boden war während des größten Hungers gepflügt oder umgegraben worden. Er trat über einen staubigen Rinnstein, stapfte umher, bereitete sich aus Heu ein Lager und kniete nieder. Noch immer war er völlig außer Atem.
    Die Fische waren verschwunden. Seine Handflächen bluteten nicht mehr, wenn er morgens die Fäuste ballte. Und die Zukunft… lag nicht mehr an der Leine.
    »Ich bin ein Ordensmann der Mandati«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
    Die Mandati. Wie lange war es her, dass er zuletzt mit ihnen gesprochen hatte? Da er unterwegs war, hatte er die Pflicht, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Dies so lange versäumt zu haben, würde seinen Ordensbrüdern als unerklärlicher Vertrauensbruch erscheinen. Sie würden ihn für verrückt halten. Sie würden unmögliche Dinge von ihm verlangen. Und morgen dann…
    Es lief immer auf morgen hinaus.
    Er schloss die Augen und stimmte die ersten Worte an. Als er sie wieder öffnete, sah er den blassen Lichtkreis, den sie um seine Knie warfen, und die Schatten von Gras im Gras. Ein Käfer krabbelte durchs Helldunkel, um der Nähe des Hexenmeisters zu entkommen. Er redete weiter. Seine Seele krümmte sich zu den Klängen und sprach inwendig die Abstraktionen – Gedanken, die nicht die seinen waren, die Welt aber bis in die Grundfesten beschrieben. Unvermittelt schien der Boden nachzugeben, und plötzlich war hier nicht mehr hier, sondern überall. Der Käfer, das Gras, sogar Caraskand verschwanden.
    Er roch die feuchte Luft von Atyersus, der großen Festung des Ordens der Mandati, durch die Nase eines anderen… Nautzera.
    Der Gestank von Salzwasser und Fäulnis trieb ihm Galle in die Kehle. Brandung krachte ans Ufer. Schwarze Wellen hoben und senkten sich unter einem düsteren Himmel. Seeschwalben standen wie festgeheftet am Firmament.
    Nein… nicht hier.
    Er kannte diesen Ort gut genug, um tief zu erschrecken, würgte wegen des Gestanks, hielt sich Mund und Nase zu, wandte sich zur Festung um… und musste feststellen, dass er auf der höchsten Stufe eines Holzgerüsts stand und bis an die Grenzen seines Blickfelds Leichen vor ihm hingen.
    Dagliash.
    Vom Fuß der Mauern bis zu den Zinnen waren überall, wo die Festungswälle aufs Meer sahen, unzählige Tausende auf alle freien Flächen genagelt. Man hatte sie mit riesigen Fischernetzen befestigt – um die verfaulenden Glieder zusammenzuhalten, wie Achamian vermutete. Die Netze hingen am Fuß der Mauern durch, wo Schädel und andere menschliche Reste sie ausgebeult hatten. Zahllose Seeschwalben und Krähen, selbst einige Tölpel kreisten über dem schauerlichen Puzzle und schossen dann und wann herab. Es schien ihm, als könnte er sich gerade an sie am besten erinnern.
    Achamian

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