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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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zu stammen, sie vibrierten wie das Flimmern einer Fata Morgana durch das Zimmer, wie die Spiegelung einer Straße im Sonnenlicht. Es war dunkel. Ich krallte meine Hände ins Laken und starrte auf die Stelle, an der die Stimme wie eine gläserne Platte in der Atmosphäre schwebte.
    »Deine Fantasien weisen dir den Weg, sie sind die Früchte deiner Wünsche, die Kinder deiner Lust.«
    »Das ist doch bescheuert«, rief ich, musste einen Kloß aus dem Hals husten. Unverwandt blickte ich zu der Stelle, von der die Worte kamen, richtete mich auf, um nicht schwach und ängstlich zu erscheinen. »Mein Wunsch war die Kunst. Mein Wunsch war es, mit Darius zu leben, was ist davon übrig geblieben?«
    »Der Wunsch.« Plötzlich saß er auf meinem Bett, das Gesicht fahl und faltig, mindestens hundert Jahre alt, die Haare zu einer Tolle frisiert. Der Wolpertinger. In der schwarz-weißen Umgebung der einzige Farbfleck, als wäre er in Tageslicht getaucht, während um ihn herum die Nacht brütete.
    Die Bettdecke. Schnell wollte ich sie über mich schlagen, aber der Greis saß so schwer darauf, dass ich sie nicht bewegen konnte. Das Sperma auf meinem Bauch, auf dem Laken, mein nackter Körper, mein schlaffes Glied, alles lag unverborgen vor ihm. Gerade noch als lustvoll empfundene Fantasie wurde in der Realität zu Scham.
    Realität?
    Ich kniff mich.
    Schmerz.
    Schloss die Augen, öffnete sie.
    Der Wolpertinger saß immer noch auf meinem Bett. So unverrückbar, dass ich ihn nicht wegtreten konnte.
    »Au«, sagte er und schüttelte missbilligend mit dem Kopf. »Spinnst du?« Seine Stimme blieb fest und ruhig. Ein Hauch Spott mischte sich hinein.
    »Wie sind Sie ins Haus gekommen?«
    »Die Tür stand offen.«
    Nachdenken über die letzten Minuten. Ich hatte das Buch zugeschlagen, war ins Bett gegangen. Er hatte recht. Die Tür hatte ich nicht verschlossen. Wir hatten sie nie verschlossen, Darius und ich.
    »Willst du Antworten oder willst du mit mir über die Möglichkeit meiner Existenz diskutieren?«, fragte der Wolpertinger und grinste breit.
    »Antworten«, stotterte ich, setzte mich auf und zog die Beine so eng an den Körper, dass er meinen Penis nicht mehr sehen konnte.
    Der Greis stand auf. Trotz der Dunkelheit konnte ich die Farbe seiner Haut erkennen, das Edelweiß auf seinem Hosenträger, den Perlmuttglanz seiner Hemdknöpfe. »Koch mir erstmal Tee und mach mir etwas zu essen! Nächtliche Wanderungen machen hungrig.« Er nahm meine Kleidung vom Stuhl und warf sie mir auf das Bett, drehte sich um, damit ich mich in Ruhe anziehen konnte, wartete, bis ich durch die Zimmertür die Treppe hinunterging.
    Unten in der Gaststube standen brennende Kerzen auf dem Tisch. In Herd und Ofen brannte das Holz, es war angenehm warm, der Kessel stand mit Wasser gefüllt auf den Ringen. Ich musste nur Tee in das Ei füllen und aufgießen. Der Mann setzte sich. Auf einem Tablett trug ich alles, was der Händler mir in den Rucksack gepackt hatte, hinein. Brot, Butter, Schinken, Wurst.
    »Möchten Sie eine heiße Suppe?«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Setz dich!«
    Ich folgte seinem Befehl, sah ihm dabei zu, sich dicke Scheiben von Brot und Schinken abzuschneiden, ordentlich Butter zu nehmen und es sich schmecken zu lassen. Im flackernden Licht sah seine fahle Haut fast gelb aus, seine graue Haartolle warf einen großen Schatten an die Wand, der wie ein überdimensionaler Gott den Raum beherrschte. Der Wolpertinger sagte kein Wort, während er kaute und ich ihn betrachtete. Hätte er mir nicht so real gegenübergesessen, hätte ich ihn für einen Leichnam gehalten.
    »Ob du es willst oder nicht«, sagte er schließlich, nachdem er den letzten Bissen mit einem Schluck Tee hinuntergespült hatte, »du wirst gehen. Nicht gleich, nicht morgen, aber bald.«
    Ich sah ihn an, wie einen Geist. »Natürlich. Ich kann doch nicht ewig in dieser Hütte bleiben. Schließlich bin ich hier zu Gast.«
    Gast – das war doch sein Wort gegenüber dem Händler gewesen. Er schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht die Hütte. Du gehst fort aus München. Im Moment hält die Entscheidung dich auf, aber wie sie auch ausfällt, du gehst fort.«
    Was sollte ich antworten, was sollte ich fragen? Seine Aussage kam mir sinnlos vor, gerade weil sie so selbstverständlich war. So war der Lauf des Lebens. Man wurde geboren und ging fort. Erst aus dem behütenden Elternhaus in die Schule, dann in die Ausbildung, dann in den Beruf. Und oft wechselte man dazu den Ort, die

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