Haus der Jugend (German Edition)
»Du wirst fortziehen. Raus aus München. Vielleicht nach Hamburg. Eventuell kannst du dich dort an der Kunstakademie bewerben. Du liebst das Wasser und du hast Talent. Hamburg wäre etwas für dich. Hamburg gilt als weltoffene Stadt und Künstler haben unter fast allen Regierungsformen mehr Freiheiten. Du wirst uns zu Weihnachten besuchen, vielleicht zu Geburtstagen. Du wirst der Sohn sein, der es in der weiten Welt zu etwas gebracht hat. Es würde nur auffallen, müsste ich mir ständig neue Ausreden einfallen lassen, warum du nicht kommst. Davon, dass ich dich finanziell unterstütze, bis du auf eigenen Beinen stehst, muss niemand etwas wissen. Aber natürlich unterstütze ich dich. Schließlich bist du mein Sohn.«
Mehreres erschreckte mich an der langen Rede. Manches, weil es mich überraschte, anderes, weil es so typisch war. Überrascht war ich von dem Rückhalt, den er mir bot, von der Unterstützung, die er mir zusagte. Das war nicht mein Vater, der mich Heinrichs wegen windelweich geprügelt hatte. Typisch war das Zupackende in seinen Worten, das Bestimmende, das selbst in Wörtern wie vielleicht noch zu hören war. So wird es gehandhabt, keine Widerrede. Der Pragmatismus, der in Problemen nur Lösungsanforderungen sah und mein Einverständnis voraussetzte, ohne mich zu fragen. In erster Linie aber war ich dankbar, gerade auch für diesen Pragmatismus. Die Ähnlichkeit des Angebots zu dem des Aloisiushauses konnte mich damals nicht erschrecken. Das Aloisiushaus hatte ich längst vergessen.
Während er das Buch in der Hand gehalten hatte, als er es auf den Tisch gelegt hatte, wollte ich unbedingt den Titel wissen. Nachdem er es mir gegeben und zu seinem langen Monolog angesetzt hatte, habe ich nicht einmal draufgeschaut.
»Ich muss allmählich wieder ins Bett. Die Erkältung auskurieren.«
Völlig verwirrt stand ich auf. »Danke.« Zum ersten Mal seit langer Zeit wollte ich ihn in den Arm nehmen. Jedoch kam ich nicht dazu, so zielstrebig ging er in Richtung Flur. Ich folgte ihm, ließ mir meinen Mantel reichen, zog ihn an.
»Hast du noch Geld?« Er wartete keine Antwort ab, sondern zog ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie, die er mir in die Hand drückte. »Das reicht für die Bahnfahrt und die ersten Tage in Hamburg.«
»Danke, aber deshalb …« Geld und Buch klemmte ich in eine Seitentasche des Rucksacks. Weder zählte ich das Geld, noch sah ich nach dem Titel des Buches.
»Schreib mir deine Adresse, damit ich dir Postanweisungen schicken kann.«
»Ja …« Ich hob den Rucksack an, schnallte ihn auf den Rücken, drehte mich noch einmal zu meinem Vater um. Jetzt wäre ein guter Moment gewesen, ihn in den Arm zu nehmen.
»Sei mir nicht böse. Ich habe mich über deinen Besuch gefreut. Auch wenn der Anlass eher unerfreulich war. Aber jetzt muss ich ins Bett zurück.«
Chance verpasst. »In Ordnung.«
Mein Vater reichte mir die Hand. »Leb wohl mein Junge«, ich drückte seine und sagte noch einmal danke.
Immer noch verwirrt drehte ich mich um. Ich hatte noch Zeit, bis der Bus kam.
»Das Buch«, rief mein Vater mir hinterher, »habe ich dir gegeben, weil es einen Weg zeigt, der Veranlagung Herr zu werden. Die Kunst, ob nun bildnerisch oder belletristisch.«
Ich winkte ihm noch einmal. »Danke.« Das einzige Wort, das mir in meiner Sprachlosigkeit erhalten geblieben war.
Verwirrt ging ich zur Bushaltestelle. »Grüß Gott Frau Finkenzeller, geht’s gut?«, »Pfürti Herr Wagner, was macht der Ferdinand?«, verwirrt setzte ich mich auf die Bank beim Wartehäuschen und holte das Buch hervor.
›Tod in Venedig.‹
Ein schmuckloser dünner Band, der nichts über den Inhalt verriet. Erst später würde ich erfahren, dass mein Vater mit seiner Aussage darüber nicht die Intention des Autors getroffen hat. An der Bushaltestelle sitzend wunderte ich mich, warum er das Büchlein in seinem Besitz hatte. Er war Lehrer, er musste viel lesen.
Wo war Darius? Wollte ich jubeln, weil es voranging, wenigstens die nächsten Tage gesichert waren und ein fremdbestimmtes und vages Ziel mich wieder an die Zukunft glauben ließ, brauchte ich dafür nicht einen teilenden Freund? Ich hatte ihn in meiner Verzweiflung, wo war er in der Verwirrung?
Wo war Darius?
In Hamburg würde ich ihn nicht finden. Trotzdem würde ich der empfundenen Anordnung meines Vaters Folge leisten, auch, wenn sich Widerstand in mir regte.
›
Vertuschen.‹
Ich wollte nicht vertuschen. Ich wollte nicht mehr rausgeschmissen werden,
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