Haus des Blutes
Vorstellungen von Treue und Monogamie. Sie kompromittierte darüber hinaus die Einschätzung, ihr Freund, mit dem sie seit sechs Monaten ein Bett teilte, sei ausschließlich heterosexuell.
Man muss keine besonders ausgeprägte Fantasie besitzen, um sich das anschließende Chaos vorzustellen.
Schockiert und mit gebrochenem Herzen hatte sich Dream den ganzen Abend lang von ihren Freundinnen trösten lassen, die ihr immer wieder versicherten, dass Dan ein herzloser Mistkerl und ihrer Tränen nicht würdig sei. Am nächsten Morgen waren sie überstürzt aufgebrochen und hatten ihre überall verstreuten Klamotten und vermeintlichen Touristenschnäppchen hastig in diverse Taschen und Koffer gestopft.
Vor ihrer Abfahrt erhaschte Dream zufällig noch einen Blick auf Dans Käfer, der einige Parklücken von ihrem Accord entfernt abgestellt war. Sie staunte über den Anblick, der sich ihr bot: Jedes einzelne Fenster zertrümmert, auf dem abgeschabten Asphalt glitzerten Scherben von Sicherheitsglas wie Kiesel an einem Strand.
Danach waren sie abgereist und hatten sich in düsterer Stimmung auf die Heimfahrt begeben, die Dream unbedingt an einem Tag hinter sich bringen wollte. Sie fuhren nun schon seit fast 14 Stunden, und zwischen ihnen und Nashville, wo sie wohnten, lagen noch immer etwa 120 Meilen. Inzwischen hatten sie das Hochland von East Tennessee erreicht und befanden sich kurz vor Chattanooga, aber es ging unerträglich langsam voran.
Die Straße wurde auf beiden Seiten von hohen Bäumen verdunkelt und schlängelte sich mit zahlreichen wilden Kurven, die an die wüsten Kritzeleien eines Kleinkinds erinnerten, durch die Gebirgslandschaft. Aufgrund der Höhenlage spürten sie Druck auf den Ohren, und gelegentlich passierten sie Ausweichbuchten, die für außer Kontrolle geratene Lkw angelegt worden waren. Selbst bei Tageslicht hatte die Strecke ihre Tücken, weshalb sich Dream brav an das ausgeschilderte, extrem niedrige Tempolimit hielt. Ihr ging durch den Kopf, dass sie bei einem Trip auf eigene Faust vermutlich nicht so vorsichtig gefahren wäre.
Vielleicht hätte sie sich dann zu etwas mehr Leichtsinn hinreißen lassen.
Aber sie fuhr nun mal nicht allein. Insgesamt saßen vier weitere Personen im Wagen, darunter ihre drei ältesten Freunde. Der Vierte war Shane Wallace, Karen Hideckis Lover. Shane und Karen hatten sich mit Chad auf dem Rücksitz eingenistet. Karen hing weggetreten zwischen den beiden, während ihr Kopf auf Shanes Schulter hin und her wackelte und ein tief hinuntergezogener Cowboyhut ihr Gesicht verbarg.
Auch Shane, der für gewöhnlich in traditioneller Manier eines ehemaligen Campus-Stars gute Laune im Sekundentakt versprühte, schien ebenso genervt zu sein wie die anderen. »Hört auf zu streiten, ihr Arschlöcher. Ich krieg schon Kopfschmerzen.«
»Halt die Klappe, Shane«, blaffte Alicia und warf ihm einen wütenden Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf Chad Robbins konzentrierte. »Du bist ein beschissener kleiner Jammerlappen, Chad. Wie kannst du es wagen, die liebe Dream so anzugreifen?«
»Wie ich es wagen kann?« Ein leises Lächeln umspielte Chads Mundwinkel. »Vielleicht bin ich es ja leid, mich von ihr als sozialer Pflegefall durchschleifen zu lassen, hm?« Er lachte. »Oder habe ich vielleicht keine Lust mehr auf die passiv-aggressiven Spielchen, die sich wie ein roter Faden durch unsere sogenannte Freundschaft ziehen? Möglicherweise hasse ich auch einfach den herablassenden Tonfall, der sich in ihre Kleinmädchenstimme einschleicht, sobald sie mit mir spricht.« Er lachte erneut. »Oh, ja, es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Gründen, warum ich Lust verspüre, gegen einen so … lieben Menschen auszuteilen.«
Dream wischte sich eine einsame Träne weg, die über ihre Wange kullerte. »Alicia!« Ihre Stimme klang erstickt vor lauter Kummer. »Wenn du mich magst … dann hör bitte auf damit!«
Eine Welle der Erleichterung schwappte über sie hinweg, als sie hörte, wie Alicia ein tiefes Seufzen ausstieß. Das Schlimmste war damit überstanden, redete sie sich ein. Alicia Jacksons Temperament ließ sich mit keinem anderen Menschen vergleichen, den sie kannte. Bei Alicia handelte es sich um eine gebildete schwarze Frau, die jeden mit ihrem Esprit und ihrer Intelligenz für sich einnehmen konnte. Man konnte mit ihr anregende Unterhaltungen über Wissenschaft, Gott und die Natur des Universums führen. Aber sobald man sie beleidigte, brach der Mr. Hyde in ihr
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