Havelwasser (German Edition)
anglotzten. Dann nahm er den Blick wieder von den Neugierigen, die noch immer murmelnd hoch über ihm auf der Jahrtausendbrücke standen, und hatte sie auch gleich wieder vergessen. Andrea Manzetti, einer der Hauptkommissare der Polizeidirektion Brandenburg, stand hier schließlich nicht zu seinem Vergnügen in der Morgensonne.
Er hatte kein Auge für seine Umgebung, denn seine Aufmerksamkeit galt einzig Dr. Bremer, der nur einen Meter von Manzetti entfernt vor einem Mann mittleren Alters mit einer ziemlich unansehnlichen Wunde kniete. Quer über den Hals verlief ein riesiger Schnitt, und genau das war das Problem von Hauptkommissar Manzetti. Deshalb musste er sich hier die Beine in den Bauch stehen, obwohl er eigentlich an seinem Schreibtisch sitzen und ein längst fälliges Papier für die Registratur fertigstellen wollte. Der erste Anruf des Tages hatte ihn aber ans Ufer der Havel geführt, und er wusste schon jetzt, dass es mit seiner administrativen Aufgabe für heute wohl vorbei war.
Die Worte des Rechtsmediziners rissen ihn unsanft aus seinen Überlegungen. „Scharfe Wundbegrenzung, fehlende Gewebsbrücken und eine größere Länge als Tiefe. Ergo ein sehr sauberer Schnitt. Professionell und in einem Zug.“ Dr. Bremer kniete noch immer neben dem toten Körper und spreizte die klaffende Wunde an der Halspartie des Toten weiter auseinander, als es nach Manzettis Meinung notwendig gewesen wäre.
„Was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen, Dottore?“, fragte Manzetti, der als ranghöchster und damit verantwortlicher Kriminalist die Tatortarbeit leiten musste.
„So weit bin ich noch nicht. Eins nach dem andern, okay?“ Die Worte des Rechtsmediziners waren ganz sachlich, enthielten im Tonfall aber trotzdem ein gehöriges Maß an Zurechtweisung. Das stieß Manzetti sauer auf. Bremer zog immer sein Ding durch, ließ sich auf nichts anderes ein, stellte sich mitunter sogar über alle anderen.
„Es handelt sich hier um die klassische Form der Schnittverletzung, vorgenommen mit einem sehr scharfen Gegenstand. Wie ich sehen kann, nur ein Schnitt. Der aber brutal tief“, formulierte er weiter, ohne auf die Frage Manzettis nach dem Todeszeitpunkt zurückzukommen.
Der beugte sich unterdessen zu dem Mediziner hinunter und versuchte, dessen Worte verlustfrei aufzuschnappen. Das tat er wie immer äußerst angewidert. Er hätte gerne darauf verzichtet, aber es gehörte wohl oder übel zu seinem Beruf. Er spürte deutlich, wie sich Unwohlsein in der Magengegend breitmachte und sich das unverdaute Frühstück langsam wieder nach oben schob. In all den Dienstjahren war es ihm nicht gelungen, sich an Anblicke wie diesen zu gewöhnen. Er schaffte es einfach nicht, den notwendigen Abstand zu solchen Gewaltopfern herzustellen. Da war es ihm gerade recht, dass der Arzt wie eine Barriere zwischen ihm und dem Toten stand. „Nicht doch mehrere Schnitte, Dottore? Klafft die Wunde nicht zu sehr auseinander.“ Manzetti stellte die Frage, weil er nicht so recht wusste, wie er die Grantigkeit des Arztes anders umschiffen sollte. Außerdem lenkte ihn das ein bisschen von den Gedanken an den eigenen Verdauungstrakt ab.
„Nein, ganz klar nur ein Schnitt.“ Der Rechtsmediziner nahm die mit einem weißen Einweghandschuh geschützte Hand vom Opfer. „Schnittverletzungen können erheblich klaffen“, erklärte er mit einem kurzen Seitenblick auf Manzetti. „Besonders wenn Muskulatur durchschnitten wurde. Typisch dafür sind Halsschnitte, mein Lieber.“ Er deutete mit der rechten Hand direkt auf die Leiche, die vor seinen Füßen auf den von der Sonne bereits erwärmten Steinen der Uferpromenade lag.
„Also nur ein Schnitt.“ Aber so ganz mochte Manzetti seinen Gedanken noch nicht aufgeben. „Auch keine Probierschnitte?“
„Nein. Auch keine Probierschnitte“, kappte Bremer diese Idee mit rügendem Tonfall, bevor Manzetti darüber intensiv nachdenken konnte. „Sie glauben doch nicht etwa an Suizid, Manzetti? Niemand schneidet sich so gewaltig selbst in den Hals.“ Die Antwort Bremers war kurz, aber eindeutig.
Damit fing der Sommer gut an in diesem Jahr. Manzetti konnte den Tatortbefund drehen und wenden, wie er wollte, es blieb ein Verbrechen. Jener Mann, der zweifellos einige Zeit in der Havel verbracht hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit ermordet worden, bevor er, wie auch immer, im trüben Wasser des Flusses landete. „Womit ist der Gute denn ins Jenseits befördert worden?“ Er begnügte sich weiter mit den
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