Havelwasser (German Edition)
1
Die Hitze schwebte schon in den frühen Morgenstunden vom strahlend blauen Himmel. Sie legte sich wie eine Glocke über die Stadt und kroch durch die kleinsten Gassen, schlüpfte in jeden Winkel und trieb ohne Erbarmen die Restkühle der Nacht vor sich her. Lediglich an der Havel, und dort auch nur im Schutze großer Bäume, hielt man es noch gut aus.
Wenn da nicht die pure Neugier, die Sensationslust gewesen wäre, die all die Menschen selbst bei diesem Wetter in die pralle Sonne gelockt hatte. Dort standen sie dicht gedrängt auf einer der Havelbrücken und gafften.
Unter der Brücke hatten mehrere Männer zu tun und ließen sich kaum von den Zuschauern ablenken. Einer von ihnen sah aber doch hin und wieder zur Brücke hoch und brummte in Richtung seines Nebenmannes: „Ich hasse diese Gaffer.“
Der Angesprochene sah nur kurz hoch und gab sich gelassen: „Lass sie doch! Solange sie uns nicht bei der Arbeit behindern ...“
„Hm“, quittierte er den Ratschlag des Kollegen und wandte seine Aufmerksamkeit der Uniform zu, die ihn als Polizisten auswies: Mit dem Zeigefinger schnippte er drei oder vier kaum sichtbare Staubpartikel von der linken Schulter und nahm dann wieder die Stufen zum Salzhofufer ins Visier, die er mit seinem Kollegen bewachen sollte.
Oben an der Treppe befand sich die neue Cafébar. Dort herrschte normalerweise Hochbetrieb, der das kleine Brückenhäuschen oft genug aus allen Nähten platzen ließ, aber heute war eben alles anders. Heute begann genau dort die polizeiliche Absperrung, und deshalb musste an diesem Morgen das Café geschlossen bleiben.
Die Betriebsamkeit hatte sich an diesem Morgen direkt auf die Jahrtausendbrücke verlagert, wo Schulkinder mit bunten Ranzen auf den Rücken standen, dicht gedrängt neben erwachsenen Männern, die ihre Fahrräder gegen das Brückengeländer drückten. Wie eine Meute Jagdhunde vor der Beute. Sie strebten alle zum Rand, ganz nach vorne.
Zuerst hatte noch absolute Stille geherrscht. Kein Laut war durch die Luft gesurrt, nicht einmal das Scharren von Füßen war zu hören gewesen. Dann leises Wispern, das von Sekunde zu Sekunde zu allgemeinem Gemurmel angeschwollen war, bis deutlich die ersten Fragen in der Menge ertönten. Es handelte sich immer um die gleichen, aber was sollte man schon anderes fragen in dieser Situation?
„Was ist da unten los?“ „Wieso dürfen wir da nicht runter?“ „Warum riegelt die Polizei alles ab?“
Schließlich waren auch Antworten gefolgt, die allerdings eher Besserwisserei, zumindest aber reger Fantasie entsprangen. Der Eine hatte gehört, dass …, der Nächste wusste aus zuverlässiger Quelle, dass es sich ganz anders verhielt, was der Dritte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit völlig ausschließen konnte. Jeder war hier mittlerweile sein eigener Reporter und kommentierte nach eigenem Gusto.
Auch die alte Dame wollte wissen, was dort passiert war, vor allem musste sie es sehen. Und so führte sie ihren kleinen Kampf, der nicht nur einer um den besten Platz war, sondern hier rang sie um Informationen, quasi um jedes Detail. Sie, die über vierzig Jahre Erfahrung im Durchdringen von Menschenmassen besaß. Es sollte nicht umsonst gewesen sein, dass sie sich fast ihr ganzes Leben lang mit dem vollen Tablett durch die Mädels und Jungs auf den Tanzböden gedrängelt hatte. Jetzt endlich konnte sie davon auch profitieren und so schob sie ihre kleine dürre Faust zwischen die rangelnden Körper, bis sich endlich ein winziger Durchschlupf öffnete. Geübt schlängelte sie sich durch das erkämpfte Loch, bevor die anderen Schaulustigen es wieder schlossen.
Endlich kam sie also vorne an und stellte sich sofort vollkommen taub. Sie tat so, als höre sie all die Beschimpfungen nicht, die zweifellos und ohne Ausnahme ihr galten. Wie der Sieger eines sportlichen Wettstreits legte sie die dünnen Finger auf das mittlerweile warme Metall des Brückengeländers und genoss den Schauer, der ihr zur Belohnung über den Rücken lief, als sie ihren Blick in dieselbe Richtung lenkte, in die all die Menschen um sie herum schauten.
Die dort unten arbeiteten routiniert und ohne Hektik. Jeder kannte seine Aufgabe, jeder war mit dem Nebenmann verzahnt – und im Gegensatz zu den Gaffern waren diese Männer nicht freiwillig hier. Warum fanden die Leute hin und wieder so viel Vergnügen daran, sich gegenseitig fast zu zertrampeln?
Kurzfristig abgelenkt, stellte sich diese Frage der Mann, den fast alle Augenpaare
Weitere Kostenlose Bücher