Hebamme von Sylt
verdiente Freda sich etwas zu ihrem kläglichen Lebensunterhalt dazu, indem sie Geesche zur Hand ging. Ihr oblag es, die Fremdenzimmer in Ordnung zu halten, dafür zu sorgen, dass die Betten regelmäßig bezogen wurden, dass immer frische Handtücher neben dem Waschgeschirr lagen und das Wasser nach der Morgentoilette erneuert wurde. Zwar hätte Geesche diese Arbeit leicht selbst verrichten und das Geld für Fredas Entlohnung sparen können, aber jedes Mal, wenn Hanna Geburtstag hatte, wusste sie wieder, wie wichtig es war, Freda zu helfen. Wenn ihre Dankbarkeit auch schwer zu ertragen war.
Geesche hörte die Tür leise gehen, und sofort schoss das Unbehagen in ihr hoch, das sie seit Jahren beinahe täglich herunterschluckte. Wie oft hatte sie Hanna schon gebeten, anzuklopfen und zu warten, bis ihr die Tür geöffnet wurde! Aber das Mädchen hörte nicht darauf. Hanna hatte ein untrügliches Gespür für die Schwächen anderer Menschen. Und dass Geesche zu schwach war, um sie zurückzuweisen, wusste sie genau. Ob sie sich wohl jemals gefragt hatte, warum das so war? Warum eine starke Frau wie die Sylter Hebamme hilf- und machtlos wurde, wenn es um Hanna Boyken ging?
Geesche lauschte auf die unregelmäßigen Schritte, auf den langen, schweren Schritt und den kaum hörbaren nächsten. Tohk-tik, tohk-tik! Dann öffnete sich die Küchentür so leise, als hoffte Hanna darauf, niemanden anzutreffen.
Als sie Geesche am Herd stehen sah, lächelte sie breit. »Ich habe Geburtstag.«
Geesche ging auf sie zu und umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch, Hanna!«
Sie hielt den schmächtigen Körper nur so lange umfangen, wie Hanna sich an sie drängte, dann schob sie das Mädchen von sich weg, griff in ihre Schürzentasche, holte die Münze hervor und drückte sie Hanna in die Hand. »Alles Gute für dein neues Lebensjahr!«
Hanna bedankte sich nicht. Sie ließ die Münze mit einer schnellen Bewegung unter der Schürze verschwinden, wo es eine Tasche gab, die Hanna sich auf den Rock ihres Baumwollkleides genäht hatte. Beides war dunkelblau, die Schürze noch dunkler als das Kleid. Geesche hatte sich oft vorgenommen, Hanna einmal etwas Helles zu schenken, eine weiße Schürze, ein fliederfarbenes Tuch, was von ihrer mürrischen Miene und ihrem misstrauischen Blick ablenken konnte. Aber dann war es doch bei dem Vorsatz geblieben, weil Geesche Hannas Dankbarkeit genauso schwer ertrug wie ihren scharfen Blick, mit dem sie die Frage zu stellen schien, warum Geesche freundlichzu ihr war. In Hannas schmalem Gesicht mit der spitzen Nase und den kleinen, stechenden Augen stand immer eine Frage, ob sie nun freundlich oder unfreundlich behandelt wurde, streng oder nachsichtig. Sie schien weder dem Leben noch den Menschen zu trauen, mit denen sie umging. Nur ihre Mutter und Ebbo genossen ihr uneingeschränktes Vertrauen. Und Elisa von Zederlitz! Der jungen Comtesse war ohne Mühe gelungen, was Geesche nicht fertigbrachte: Hanna zu nehmen, wie sie war, und sie zu mögen, wie sie war.
Hanna humpelte zum Herd und bat um einen Tee. »Weil ich Geburtstag habe.«
Geesche nickte, griff zu einer Dose, die auf der Ummauerung der Feuerstelle stand, und holte einige Teeblätter heraus. Hanna stand neben ihr, stützte sich auf den Rand der Feuerstelle und richtete sich so gerade auf wie möglich. Ihr rechtes Bein schwebte nun über dem Boden, ihre verformte Hüfte stand beinahe so waagerecht wie bei einem gesunden Menschen. Hanna trug immer sehr lange Röcke, um sich so oft wie möglich die Illusion zu gönnen, niemand könne sehen, dass sie ein Krüppel war.
»Graf von Zederlitz kommt heute mit seiner Familie auf die Insel«, sagte Hanna.
Geesche sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«
»Habe ich gehört.«
Hanna hörte immer und überall etwas. Wie sie an ihre Kenntnisse kam, war Geesche ein Rätsel. Sie fragte nie. Eine ehrliche Antwort hätte sie sowieso nicht bekommen. Das war so sicher, wie sie wusste, dass sie eine ehrliche Antwort auch nicht hören wollte.
»Seine Tochter hat heute auch Geburtstag«, ergänzte Hanna zufrieden. »Ich werde ihr ein paar Blumen bringen.«
Hanna war stolz darauf, dass sie mit der Tochter des Grafen zur selben Stunde im selben Haus geboren worden war. Und seit Graf von Zederlitz ihr Arbeit gab, wenn er im Sommerauf Sylt war, hatte sie endlich einmal allen anderen etwas voraus.
»Marinus Rodenberg begleitet ihn auch in diesem Jahr«, fügte Hanna nun an und beobachtete Geesche aus den
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