Hebamme von Sylt
verstand. Sie griff nach dem Arm der Gräfin, um sie in die Küche zu führen … und in diesem Augenblick geschah es. Das Haus wurde mit einem Mal in grelles Licht getaucht. Kein Blitz, nein, ein Leuchten, das dem Himmel für Sekunden seine Farbe nahm. Die Schwärze ging in einem weißen Scheinauf, vor dem alles Große klein und alles Kleine noch winziger wurde. Scharf umrissen und rabenschwarz blitzte alles auf, was zu Sylt gehörte, auch das Inventar im Haus der Hebamme und die Menschen, die sich dort zusammengefunden hatten.
Als die Schwärze so schnell zurückkehrte, wie sie gegangen war und die Nacht sich wieder über diesen grellen Augenblick senkte, begriff Geesche, dass etwas geschehen würde. Dies war kein Wetterleuchten gewesen, es musste das Auflodern des Schicksals gewesen sein. Was würde in dieser Nacht geschehen? Ihre Hände zitterten, als sie die Gräfin in ihre Küche führte, und sie spürte, dass diese ihre Unruhe bemerkte …
Gegen Morgen wurden kurz hintereinander zwei Mädchen geboren, keine halbe Stunde nachdem es noch einmal ein Wetterleuchten gegeben hatte. Und als die Neugeborenen auf der Welt waren, bestätigte sich, was Geesche beim Eintreffen der Gräfin gefühlt hatte. Die Warnung des Schicksals! Während der Nacht hatte sie Mühe gehabt, beiden Frauen gerecht zu werden, der Gräfin gemäß ihrer Vorrangstellung die größere Aufmerksamkeit zu schenken, aber Freda darüber nicht ganz zu vergessen. Dass das Wetterleuchten wie eine Warnung gewesen war, hatte sie verdrängt, ebenso die Frage, wovor sie gewarnt werden könnte. Sie beantwortete sich später von selbst. Schon bald, nachdem die beiden Mädchen gewaschen, gewickelt und gemeinsam in die einzige Wiege gelegt worden waren, die Geesche besaß. Dicht nebeneinander lagen sie da, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Neugeborenen einer Gräfin und einer Fischersfrau. So lange, bis der Graf seine Tochter heraushob und verlangte, dass sie so schnell wie möglich in sein Haus gebracht wurde …
I.
Sechzehn Jahre später war Geesche Jensen zu einer stattlichen Frau geworden. Groß war sie, größer als die meisten Sylterinnen und nicht so dünn wie viele von ihnen, die nur mit Mühe ihr Auskommen hatten und schlecht ernährt waren. Ihr Gesicht war immer noch weich und mädchenhaft, ihre blonden Haare, die sie in dicken Flechten um den Kopf gelegt hatte, wiesen keine einzige graue Strähne auf, obwohl sie in zwei Jahren ihren vierzigsten Geburtstag begehen würde. Ja, sie war noch immer eine ansehnliche Frau! Die großen grauen Augen wurden von dichten schwarzen Wimpern umrahmt, ihre Wangen waren rosig, ihr Mund besaß volle Lippen. Wer sie aber genauer betrachtete, bemerkte auch den herben Zug um ihren Mund, und wer sie gut kannte, wusste, dass sie nicht mehr oft lachte. Das Leben hatte Geesche Jensen stark, aber auch hart gemacht. Daran konnte auch das blau-weiß karierte Baumwollkleid nichts ändern, das eine verspielte kleine Rüsche am Halsausschnitt hatte, und ebenso wenig die strahlend weiße, blitzsaubere Schürze, die sie darüber gebunden hatte. Die hellen Leinenschuhe mit der leichten Hanfsohle hatte sie am Vortag so lange geschrubbt, bis sie fast so hell waren wie ihre Schürze. Auf Sauberkeit legte Geesche Jensen großen Wert.
Sie stand am Fenster und sah hinaus, als erwartete sie einen Gast, der sich verspätet hatte. Der Sommer war kalt in diesem Jahr. Zum Glück hatte es noch keinen Sturm gegeben, aber genauso wenig einen wolkenlosen blauen Himmel. Obwohl der Wind schwach war, blieb er dennoch kalt, und die Sonne hatte noch immer keine Kraft, um die Insel zu erwärmen. Der Steinwall,der Geesches Haus umgab, war jedoch voller Heckenrosenblüten, die Wiesen davor gelb und weiß betupft, und die Sonne, die an diesem Morgen erwacht war, schaffte es, die Blüten zum Leuchten zu bringen.
Wie anders war der Tag vor sechzehn Jahren gewesen! Wie hatte der Sturm gewütet in jener Nacht, als Hanna Boyken und Elisa von Zederlitz das Licht der Welt erblickt hatten!
Geesche kreuzte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. Sie fröstelte, als führe der Sturm noch einmal in ihr Haus, so wie damals. Jahr für Jahr war sie froh, wenn dieser Tag vorüber war, an dem die Geburt der beiden Mädchen sich jährte. Ein schrecklicher Tag, vor allem für die arme Freda. Wenn sie zu ihr kam, würde es wieder Geesches Aufgabe sein, sie daran zu erinnern, dass dieser Tag nicht nur Jens Boykens Todestag, sondern auch Hannas
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